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Autonomie versus Engagement?

Über Adorno und Brecht

Von Gerhard Scheit

(Aus: Bahamas 62/2011)

 
Dem Bild, das in der literarischen und politischen Öffentlichkeit von Bertolt Brecht vermittelt wird, scheint die Kritik, die Theodor W. Adorno einmal am Werk dieses Schriftstellers geübt hat, nicht assimilierbar. Adorno figuriert im Zusammenhang mit Brecht meist nur als dessen sporadischer Gesprächspartner oder als Kollege Hanns Eislers im kalifornischen Exil, über den mit den despektierlichen Notizen aus dem Arbeitsjournal oder apokryphen Anspielungen auf die Kritische Theorie aus dem Tui-Romanfragment alles gesagt sei. Dieser blinde Fleck, welcher der alten und der neuen Linken, den strukturalistischen wie marxistischen, postmodernen wie antiimperialistischen Brecht-Interpretationen gemeinsam ist, macht deutlich, dass es ein drängendes Bedürfnis gibt, den Widerspruch loszuwerden, den Adorno in der Deutung der Brechtschen Texte entfaltet hat. Mit dem Widerspruch geht nicht zuletzt eine politische Dimension verloren, die es erst erlaubte, einen anderen Begriff von Engagement zu formulieren als den allseits geläufigen, mit dem Adorno im Engagement-Essay zu Gericht ging. In seiner Ästhetischen Theorie aber heißt es, durch Brecht sei „das Selbstbewußtsein des Kunstwerks als eines Stücks politischer Praxis dem Kunstwerk als Kraft wider seine ideologische Verblendung zugewachsen. Brechts Praktizismus wurde zur ästhetischen Formante seiner Werke und ist aus ihrem Wahrheitsgehalt, einem unmittelbaren Wirkungszusammenhängen Entrückten, nicht zu eliminieren.“ [1] Adornos Theorie spürt damit einer allgemeineren politischen Bedeutung nach – allgemeiner als die, der Brecht vorgibt zu folgen. Diese Bedeutung zu erschließen, verlangt die Konzentration auf die Form. „In seinen Stücken gewannen die Thesen eine ganz andere Funktion als die, welche sie inhaltlich meinten. Sie wurden konstitutiv, prägten das Drama zu einem Anti-Illusionären, trugen bei zum Zerfall der Einheit des Sinnzusammenhangs. Das macht ihre Qualität aus, nicht das Engagement, aber sie haftet am Engagement, es wird zu ihrem mimetischen Element. Brechts Engagement tut dem Kunstwerk nochmals gleichsam an, wohin es geschichtlich von sich aus gravitiert: zerrüttet es.“ [2] Die Zerrüttung zeigt sich in der „Zeitkunst“ von Drama und Theater am nachdrücklichsten am Problem des Schlusses, wie Adorno an einer Stelle mehr andeutet als ausführt: „Einmal der Konvention ledig, vermag offenbar kein Kunstwerk mehr überzeugend zu schließen, während die herkömmlichen Schlüsse nur so tun, als ob die Einzelmomente mit dem Schlußpunkt in der Zeit sich auch zur Totalität der Form zusammenfügten.“ [3] Eben dieses Problem sei bei Brecht zugespitzt, wobei Adorno darauf verzichtet, nun die einzelnen „Schlüsse“ der Stücke anzugeben, geschweige denn zu analysieren. Deren Spektrum, das einer eingehenden Untersuchung wert wäre, reicht vom beängstigenden Chaos am Ende von Mahagonny: „Können uns und euch und niemand helfen“ bis zum sentenziösen Schluss des Guten Menschen von Sezuan, der dann mit einiger Konsequenz im Literarischen Quartett kulturindustriell zu Tode zitiert wurde: „Der Vorhang zu und alle Fragen offen“. [4]


Kleiner Exkurs über den Schlusspunkt
Gerade die zitierte Passage der Ästhetischen Theorie lässt erkennen, dass sie durchaus als eine politische Theorie avant la lettre gelesen werden kann, sind doch die „herkömmlichen Schlüsse“, von denen Adorno hier spricht, im Drama und Theater der Zeitpunkt, da der kleine oder große Ausnahmezustand beendet wird, die Ordnung der Geschlechter durch Hochzeit und Familiengründung, die Ordnung des Staats durch Tod und dessen Sinngebung sich wiederhergestellt finden. Mit der Totalität der Form ist die der Gesellschaft zusammengefügt.
Vom Ausgang her betrachtet stimmt auch Shakespeares Dramaturgie mit den Souveränitäts-Theorien von Machiavelli, Bodin und Hobbes überein: Zu guter Letzt geht es immer um die Etablierung eines Souveräns und die Selbsterhaltung des Staats. Am Ende von Richard III etwa steht Richmond, der die Rosenkriege für beendet erklärt und die Herrschaft eines dritten Clans begründet, die schließlich über hundert Jahre andauern sollte und mit Elizabeth I auch die Königin stellte, unter deren Regentschaft noch Shakespeare seine Stücke schrieb. Seine Worte können als Menetekel gelesen werden, als ständig erneuerte und in verschiedensten Variationen ausgeführte Warnung vor dem Rückfall in den Bürgerkrieg: „England war lang in Wahnsinn, schlug sich selbst: / der Bruder, blind, vergoß des Bruders Blut; / Der Vater würgte rasch den eignen Sohn; Der Sohn, gedungen, ward des Vaters Schlächter; / All dies entzweiten York und Lancster (…) Zerbrich der Bösen Waffen, gnäd’ger Gott, / Die diese Tage möchten wiederbringen, / Daß England weinen müßt’ in Strömen Bluts! / Der lebe nicht und schmeck des Landes Frucht, / Der heim des schönen Landes Frieden sucht! / Getilgt ist Zwist, gestreut des Friedens Samen: / Daß er hier lange blühe, Gott, sprich amen!“
Die Macht des Souveräns und die Aufhebung des Bürgerkriegs ist auch dort das Ziel, wo man es auf den ersten Blick nicht vermuten würde, so etwa in der Tragödie von Romeo und Julia, die sterben, weil ihre Familien verfeindet sind. Montague und Capulet sind Clans wie York und Lancaster, nur geht es hier nicht um den Kampf um die Königsmacht, sondern diese Macht erweist sich als zu schwach, die Feindschaft der Adelsbanden zu beenden, darum sterben Romeo und Julia. Der Souverän selbst sieht am Ende ein, dass er keinerlei Feindschaft der Clans in seinem Staat mehr dulden darf. „Wo sind sie, diese Feinde? – Capulet! Montague! / Seht, welch ein Fluch auf eurem Hasse ruht, / Daß eure Freuden Liebe töten muß! / Auch ich, weil ich dem Zwiespalt nachgesehen, / Verlor ein paar Verwandte. – Alle büßen. (…) Nur düstern Frieden bringt uns dieser Morgen; / Die Sonne scheint, verhüllt vor Weh, zu weilen. / Kommt, offenbart mir ferner, was verborgen, / Ich will dann strafen oder Gnad’ erteilen; / Denn niemals gab es ein so hartes Los / Als Julien und ihres Romeos.“
Der Friede am Ende ist hier nicht glorreich, wie oft in den Historiendramen, es bleibt düster. Die Versöhnung der Kriegsparteien und die Stärkung des Souveräns werden als notwendig erkannt, insofern gibt der Souverän dem Tod Julias und Romeos einen Sinn. Aber die politische Lösung löscht das Leid als unaufhebbar individuelles nicht aus und stellt damit den Sinn auch wieder in Frage. Der Staat sei dazu da, den gewaltsamen Tod unter seinen Bürgern zu verhindern, und darum beanspruche er für sich allein das Recht, sie zu töten. Der Vorbehalt noch dieser Lehre gegenüber, der Shakespeare über die üblichen „Haupt- und Staatsaktionen“ hinausgehen ließ, wäre darin zu sehen, dass durch sie der erlittene Tod, der dargestellt wird, nicht gerechtfertigt werden darf: als notwendiges Opfer. Andernfalls frevelt Kunst an ihrem eigenen Sinn, hebt sich selbst auf, wird zur Propaganda für den Staat.
Die Möglichkeit eines positiven Ganzen, das sich dem Einzelnen gegenüber behauptet, erscheint allerdings umso fragwürdiger, als die Ausbeutung in der Moderne neue Form annimmt. Durch Vertragsverhältnisse und Kapitalverhältnis ist sie schließlich „unabsehbar vermittelt“, wie Walter Benjamin sagt; mit anderen Worten: depersonalisiert. Wie soll aber noch das Ganze erscheinen, wenn es nicht mehr in einer Person, im Souverän verkörpert werden kann? Es ist unmittelbar überhaupt nicht mehr darstellbar, nur noch an dem, was es aus den Menschen macht.
Das Individuum tritt als jeweilige Charaktermaske abstrakt gewordener Herrschaftsformen hervor, die sich eigentlich der dramatischen Form, der im Dialog entwickelten Handlung, entziehen. Und im Horizont der neuen, unabsehbar vermittelten Abhängigkeitsverhältnisse vermag immer nur das alte, personengebundene noch dramatisch gestaltet zur Darstellung gelangen – besonders pointiert in Beaumarchais’ Tollem Tag, wenn Diener und Herr sich auf alte Komödienart unmittelbar gegenüberstehen. Dass es aber der Tragödie nicht mehr möglich ist, den modernen Staat, der jene auf Vertragsverhältnisse umgestellte Ausbeutung garantiert, in traditioneller Weise zu legitimieren, ohne das individuelle Leid ganz auszulöschen; dass also die Totalität des Sinns sich nicht mehr zusammenfügen will – diese Konsequenz, an der das bürgerliche Trauerspiel ästhetisch gescheitert ist, hat dann gerade jener Dramatiker am dezidiertesten, das heißt: am Dramenschluss selbst, gezogen, der im 19. Jahrhundert Shakespeare gewiss am nächsten steht. In der Schluss-Szene aus Büchners Dantons Tod schreit Lucile, die Geliebte des hingerichteten Desmoulins, „sinnend und wie einen Entschluss fassend, plötzlich: Es lebe der König!“ Sofort schlagen die herumstreunenden Bürger zu und antworten: „Im Namen der Republik!“, und sie wird „von der Wache umringt und weggeführt“.


Die Abstraktion und das Engagement
Adornos Engagement-Aufsatz von 1962 konzentriert sich eher auf solche Momente bei Brecht, wodurch jene Zerrüttung des Kunstwerks, die ihm die Ästhetische Theorie zugute hält, zurückgenommen wird und der politische Zweck über die allgemeine politische Bedeutung den Sieg davon trägt. Zugleich versucht der Essay die Engführung mit Jean-Paul Sartre, es liegt ihm offenkundig daran, in die kurrenten Diskussionen über Kunst und Politik umfassend einzugreifen. Diese Intention mag dazu beigetragen haben, dass Adorno den Brüchen in der Entwicklung Brechts nur geringe Bedeutung beimisst, insbesondere dem nach der Lehrstückphase, sodass wechselnde Distanz und Nähe zu Sartres Konzept von engagierter Literatur nicht deutlich werden. Während noch die Maßnahme, indem sie die Hinrichtung des „jungen Genossen“ durch die politische Gruppe zu rechtfertigen sucht, das totale „Einverständnis“ mit dem Kollektiv zelebriert, das Sartre verweigert, könnte umgekehrt die „stumme Katrin“, die in der Mutter Courage wie besinnungslos trommelt, um die Einwohner einer Stadt zu warnen, wirklich als eine existenzialistische Figur im Sinne von Sartres Engagement verstanden werden – sowenig Brecht selbst mit Sartres Philosophie auch anfangen konnte. Die nationalsozialistische Herrschaft nötigte offenkundig dazu, die Entscheidung des Einzelnen, die jenes Einverständnis aufkündigt, zur Sprache zu bringen, denn nur durch sie ist zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden innerhalb eines ökonomischen Ganzen, das doch alles determiniert.
Dieses Ganze gegen das Individuum zu wenden, um alle humanistischen Bestrebungen als Etikettenschwindel zu entlarven, war aber seit Mitte der 1920er Jahren das große Thema der Brechtschen Produktion gewesen: Das Individuum wird darin als Reflexionsform der Eigentumsverhältnisse vorgeführt oder als Material für Staat und Politik, das es für die jeweilige Aufgabe zu formen gilt. Mann ist Mann heißt denn auch ein Stück, in dem diese Intention sich erstmals deutlich zeigt: „Daß man mit einem Menschen beliebig viel machen kann./ Hier wird heute abend ein Mensch wie ein Auto ummontiert / Ohne daß er irgend etwas dabei verliert. / Dem Mann wird menschlich nähergetreten / Er wird mit Nachdruck, ohne Verdruß gebeten / sich dem Lauf der Welt schon anzupassen / Und seinen Privatfisch schwimmen zu lassen / Herr Bertolt Brecht hofft, Sie werden den Boden, auf dem Sie stehen / Wie einen Schnee unter sich vergehen sehen (…).“
Wie nahe dem Mann getreten werden kann, sollte dann Brechts Annäherung an den Parteikommunismus erweisen, der die Lehre seiner Lehrstücke entsprang: Die Partei darf gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen – so könnte in Anlehnung an Carl Schmitt ihr Inhalt zusammengefasst werden. Der „junge Genosse“ der Maßnahme handelt als Individuum, aus individuellen Motiven – und wird eben darum von der Partei liquidiert. Er hat z. B. Mitleid, wird aber streng genommen nicht ,unschädlich gemacht‘, weil er Mitleid hat – er wird ,unschädlich gemacht‘, weil Mitleid eine individuelle Eigenschaft ist. Die konkrete Situation, die den Mord legitimieren soll, zeigt sich als Mittel zum Zweck, und Zweck ist die die Bereitschaft zu Opfer und Selbstopfer oder vielmehr die politische Gemeinschaft, die aus ihr erwächst.
Die eigentliche Unschuld des Getöteten wird ebenso herausgestrichen, wie die der Tötenden, darin setzt sich das Opferritual durch, das im Namen des Politischen erneuert wird. Dabei kennzeichnet es noch Brechts repressivste Werke, dass er den Schritt zur Substantialisierung des Kollektivs in der Nation, des Opfers in der „Volksgemeinschaft“, wie ihn Faschismus und Nationalsozialismus vorgaben, nicht gemacht hat, den Staatsgedanken vielmehr in abstrakter Form – als Klassen- oder Parteikollektiv – festhält. Gerade die Ästhetik dieser Abstraktheit, worin er das Opfer gestaltet, schuf eine gewisse Distanz zu jeder Art ideologischer Substantialisierung und ermöglichte noch so etwas wie Reflexion. Und dennoch liegt in der Abstraktheit selbst das ganze Problem.
Der Begriff des Tragischen, unter dem die idealistische Ästhetik das gewaltsame Ende des Individuums zu fassen sucht, besteht wirklich darin, dass eine Person dem Staat geopfert wird oder sich für den Staat opfert; die Vereinzelung des Individuums bloß zugelassen wird als Menetekel für die Gemeinschaft, die als Substanz des Staats gebildet wird und ihn dadurch als Konkretes, Lebendiges erscheinen lässt. Die einzelne Tragödie aber kann im Sinn von Adornos Ästhetik überhaupt nur als eigenständiges Kunstwerk gelten, wenn sie diesem Begriff widerspricht und von sich aus jener dem Staat geweihten Gemeinschaft etwas entgegenzusetzen hat: eben das Moment der Vereinzelung als selbständige Bedeutung; die Ausbildung von Individuiertem gegenüber einem falschen Allgemeinen. Dennoch konnte vor dem Einbruch der Moderne kaum ein Werk umhin, dieses Allgemeine zuletzt doch irgendwie zu feiern, um als Exemplar der Gattung Tragödie offiziell anerkannt zu werden und die Zensur zu passieren. So ist die Abstraktheit, wie sie bei Brecht mit dem Anspruch ungeschminkter Wahrheit auftritt und bis ins Detail der Form zu verfolgen ist, sodass jede szenische Möglichkeit der Individualisierung liquidiert wird, einerseits Wahrheit über das Moment des Unwahren in der Tragödie – andererseits selber eine Entscheidung gegen das Individuum und für den Staat.
Am Lehrstück besticht darum die Radikalität, womit politische Möglichkeiten spielerisch ins Extrem getrieben und jenseits taktischer Konzeptionen und politischer Propaganda die Konsequenzen bestimmter Haltungen ausgesprochen werden. Unter allen politischen Texten jener Jahre – seien es nun Pamphlete, Romane, Essays, Gedichte oder Stücke – antizipiert allein die Maßnahme das wirkliche Unheil des Staatskommunismus. Das Stück spricht offen und bejahend aus, was sonst hinter politischen Phrasen verborgen bleibt. Als die Säuberungswellen einsetzten, kulminierte jedoch die Phrasenproduktion, es war die Zeit der Volksfront-Taktik: je häufiger hochtönend von Humanismus gesprochen wird, desto größer das Ausmaß der Verbrechen. Der Verfall der Theorie bei Georg Lukács, der doch einmal der Marxschen Kritik mächtig gewesen war und sie nun für Volksfront-Parolen preisgab, kann dafür als Paradigma begriffen werden – er hat Brecht fast genauso abgestoßen wie Adorno, der später dafür den Ausdruck von der „erpreßten Versöhnung“ prägte.
Das Dilemma, in das der Stückeschreiber geriet, lag darin, dass er ein solcher Humanist nun gar nicht werden wollte, aber in Anbetracht des nationalsozialistischen Massenwahns von der Lehre der Lehrstücke doch abwich, ohne darüber sich theoretisch unbedingt Rechenschaft zu geben. Die Ästhetik des frühen „epischen Theaters“, soweit sie von allem Individuellen abstrahiert, um die bürgerlichen Kunstformen zu denunzieren, die darin schwelgen, ging plötzliche ins Leere angesichts der Bereitschaft zum Opfer, womit die deutsche Volksgemeinschaft sich an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft gesetzt hatte. Und Brecht, der „Spezialist des Von-vorn-Anfangens“, wie ihn Benjamin nannte, versuchte spätestens seit Furcht und Elend des Dritten Reichs darauf zu reagieren. Je mehr aber nun das Individuum gleichsam rehabilitiert wurde, desto mehr entfernte sich Brecht auch von der Kritik der politischen Ökonomie und passte sich so an die ihm verhasste Volksfront an. Wenn er in seiner Exilproduktion darum zu Parabeln aus der vormodernen Welt oder aus der Peripherie der modernen greift, so ist es, als ob er diesem Dilemma ausweichen wollte. Die ästhetische Form erreicht nicht mehr die Radikalität der Kritischen Theorie; Figuren, wie sie Brecht nun auftreten lässt – Galilei, Azdak oder Schweyk, aber auch die Mutter Courage – erscheinen als Kompromiss, nicht selten humoristischer Art. Der Verfremdungseffekt löst keinen Schock mehr aus, die vollständige Abstraktion von der Individualität wird sistiert: die nur negativ zu konzipierenden Charaktermasken werden wieder halbwegs positive Charaktere, die als Identifikationsfiguren taugen. So nehmen sie etwas davon zurück, was nach Maßgabe jener Theorie über die Lage des Individuums in der Moderne zu erkennen ist. Denn wie schon Mahagonny es vorführte, wäre doch weiterhin davon auszugehen, dass die Menschen als Subjekt nur darum gelten, weil sie Warenbesitzer sind oder werden können. Vor dem Hintergrund des abstrakten Individuums der Gleichheit, des Warenbesitzers und Zurechnungspunkts, zeigt sich das konkrete bloß als Summe der Deformationen, die ihm von der Form der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion angetan werden. Unmöglich, es abseits der Gesellschaft oder ihr gegenüber gesetzt, als das schlechthin Bessere, das Positive, zu statuieren. Es ist einfach das, was – in den Worten von Adornos Negativer Dialektik – als Nichtidentisches erfahren wird, in einer Gesellschaft, in der alle soweit identisch sind, als sie potentieller oder reeller Arbeitskraftbesitzer zu sein beanspruchen können. Was sich dabei als Individuierung begreifen lässt, ist kaum mehr als ein Versprechen, für das es einige Anhaltspunkte gibt.


Das Geschäft des Fleischkönigs
So wundert es nicht, dass Adorno, der mit Abscheu vom „wildem Gebrüll“ der Maßnahme sprach, dann doch Mahagonny und die Heilige Johanna der Schlachthöfe mehr interessierte als die Mutter Courage und Galileo Galilei. [5] Hier zeichnen sich offenkundig ästhetische Möglichkeiten ab jenseits der Alternative zwischen Lehrstück des Kollektivismus und Parabelstück des Individualismus; hier unternimmt Brecht avancierte Versuche, eine Gesellschaft darzustellen, worin, wie Marx sagt, „die Warenform die allgemeine Form des Arbeitsprodukts, also auch das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist“ [6]; in der nicht die Klasse der Kapitalisten herrscht, wie die Marxisten behaupten, sondern, wie Marx dargelegt hat, die „Verselbständigung des Werts gegenüber der wertbildenden Kraft, der Arbeitskraft“. Die Voraussetzung für diese Herrschaftsform sui generis besteht darin, dass die Arbeitskraft selbst zur Ware wird. Als eine solches, in gänzlich neuer Weise dynamisches Produktionsverhältnis lässt sie von sich aus dem Eigentümer der Produktionsmittel keine andere Wahl, als die Konkurrenten immer aufs Neue zu übertrumpfen im Wettlauf der Verwertung des Werts – ganz unabhängig davon, was er selber eigentlich subjektiv will, er ist eben in dieser Hinsicht nur als Charaktermaske zu betrachten. Der „stumme Zwang“, der auf Gewalt beruht aber selbst davon frei ist, liegt allein in der permanent drohenden Möglichkeit des Scheiterns, wodurch der Eigentümer selber genötigt wäre, die einzig ihm noch verbliebene Ware, die Arbeitskraft, zu verkaufen. In den Worten von Brechts Mauler, dem „Fleischkönig“ aus der Heiligen Johanna der Schlachthöfe: „Dies ist ein Geschäft, bei dem’s / Um Sein und Nichtsein geht, darum: ob ich / In meiner Klasse der beste Mann bin oder / Selber den dunklen Weg zum Schlachthof geh.“ Das Kapital, so Marx, zeige sich „als gesellschaftliche Macht“, deren bloßer „Funktionär“ der Kapitalist ist und „die in gar keinem möglichen Verhältnisse mehr zu dem steht, was die Arbeit eines einzelnen Individuums schaffen kann – aber als entfremdete, verselbständigte gesellschaftliche Macht, die als Sache, und als Macht des Kapitalisten durch diese Sache, der Gesellschaft gegenübertritt. Der Widerspruch zwischen der allgemeinen gesellschaftlichen Macht, zu der sich das Kapital gestaltet, und der Privatmacht der einzelnen Kapitalisten über diese gesellschaftlichen Produktionsbedingungen entwickelt sich immer schreiender (…)“ [7] Dieses Schreien hörte man auf Brechts Bühne, solange das disziplinierte Gebrüll des Lehrstück-Chors nicht alles übertönte. Es zählt nun zu den besonderen Eigenschaften jenes Fleischkönigs von Chicago, dass er auch noch diesen schreienden Widerspruch sich zueigen machen möchte, um davon zu profitieren. Genau darin gibt sich Mauler aber als durch und durch deutscher Bürger zu erkennen, dem es immer zugleich ums Geschäft wie um die Bereitschaft zum Opfer geht. Denn das Höhere, wie es im faustischen Ringen dieses Kapitalisten zum Ausdruck kommt, besteht im Gegensatz zum niedrigen Profitdenken eben darin, die Sache ganz selbst-, nutz- und vorteilslos, die Sache eben um ihrer selbst willen zu treiben: „Denn es zieht mich zu dem Großen / Selbst- und Nutz- und Vorteilslosen / Und es zieht mich zum Geschäft / Unbewußt! / Alle / Mensch, es wohnen dir zwei Seelen / In der Brust! / Such nicht eine auszuwählen / Da du beide haben mußt. / Bleibe stets mit dir im Streite! / Bleib der Eine, stets Entzweite! / Halte die hohe, halte die niedere / Halte die rohe, halte die biedere / Halte sie beide!“
Die Handlung läuft zwar auf den Triumph Maulers hinaus, der – als wäre er ein wiederauferstandener Shakespearescher Souverän – die Position eines unangreifbar gewordenen Monopolisten erringt und damit den vermeintlichen Beweis liefert, dass es sich doch nur um einen Scheinwiderspruch handle und ein einzelner Kapitalist imstande sei, die Verselbständigung des Werts zurückzunehmen. Aber Brecht lässt es doch nicht dazu kommen: In der Bühnenfassung von 1930 begnügt er sich noch bei der abschließenden Kanonisierung Johannas mit der Forcierung parodistischer Elemente, und dazu gehört, dass Mauler ein weiteres Mal seine Unternehmer-Weisheit von den zwei Seelen in des Menschen Brust besingt. In der schließlich gedruckten Fassung von 1932 jedoch vollzieht sich diese Kanonisierung vor dem Hintergrund der neu hereinbrechenden Krise, die nun aber deutlich jene Krisen in der Fleisch-Branche übersteigt, die Mauler noch zu seiner Etablierung als Monopolist zu nützen verstand. Es ist, als ob das Chaos am Ende von Mahagonny wieder beginnt, nur verwendet Brecht hier mit den von Lautsprechern verkündeten „Schreckensnachrichten“ aktuelle Schlagzeilen von Börsenkrach und Weltwirtschaftskrise, die in den USA ihren Ausgang nahmen und sich bald auf Europa ausdehnten: „Sturz des Pfundes! Die Bank von England seit dreihundert Jahren zum ersten Mal geschlossen! Acht Millionen Arbeitslose in den Vereinigten Staaten!“ Und unter dem Eindruck dieser Meldungen schreien sich nun diejenigen, die Johannas Kanonisierung deklamieren, zwischendurch „wilde Beschimpfungen zu, wie: ,Dreckige Schweinemetzger, hättet ihr nicht zu viel geschlachtet!’ und ,Elende Viehzüchter, hättet ihr mehr Vieh gezüchtet!’ und ,Ihr wahnsinnigen Geldschaufler, hättet ihr mehr Leute eingestellt und Löhne bezahlt, wer soll sonst unser Fleisch fressen?’ und ,Der Zwischenhandel verteuert das Fleisch!’ und ,Die Getreideschieber sind es, die das Vieh verteuern!’ und ,Die Frachtsätze der Eisenbahn schnüren uns den Hals zu!’ und ,Die Bankzinsen ruinieren uns!’“ Der Inhalt dieser Beschimpfungen, die in beklemmender Weise an die Reaktionen auf die jüngste Bankenkrise von 2008 erinnern, ist der Wirklichkeit der Krise näher als die Inschriften auf den Tafeln der Demonstrationszüge von Mahagonny, wo es heißt: „Für den Kampf aller gegen alle / Für den chaotischen Zustand unserer Städte / Für den Fortbestand des Goldenen Zeitalters / Für das Eigentum / Für die Enteignung der andern“ – aber es ist derselbe Wahnsinn, hervorgebracht von denselben Widersprüchen der Herrschaftsform, dargestellt nur auf einer anderen Ebene ihrer Analyse.
Der Unterschied ist allerdings, dass Brecht in der Heiligen Johanna der Schlachthöfe der entfesselten Krise punktuell Erfolgsmeldungen des Fünfjahresplanes der Sowjetunion entgegenstellt – als wirkliche Alternative, die kurz aufblitzt im allgemeinen Chaos: „Der Fünfjahresplan gelingt!“. Damit schlägt sich hier gleichsam nur am Rande die Teleologie der Lehrstücke nieder. Und Johannas Tod selber gemahnt schon etwas an den des „jungen Genossen“ der Maßnahme, da sie doch stirbt, weil sie aus individuellen Motiven handelte, nicht im Kollektiv der Arbeiter aufging. Aber die Erkenntnis, die sie als Sterbende formuliert, ist noch anderer Art, weil sie die Form der Ausbeutung selber betrifft. Während der Song von der Ware in der Maßnahme hinter die Marxsche Analyse zurückfällt und nur, wie in der üblichen christlich inspirierten Kapitalismuskritik, die Ausbeutung auf vorkapitalistischer Basis, als bloße Sklaverei, zu kennen scheint, sodass der Mensch selber, und nicht seine Arbeitskraft, als käuflich unterstellt werden muss („Ich weiß nicht, was ein Mensch ist / Ich kenne nur seinen Preis“) [8], weiß die gescheiterte Christin Johanna, dass es sich anders verhält: In einer Gesellschaft, in der die Arbeitskraft statt des Menschen Warenform annimmt, übersteigt die Form der Ausbeutung prinzipiell den Einflussbereich derer, auf die sie historisch zurückgeführt werden kann und spottet solchermaßen der Rationalität: Der Oberen „Niedrigkeit“ sei zwar „ohne Maß“ – aber „auch wenn sie besser werden, so hülfe es / Doch nichts, denn ohnegleichen ist / Das System, das sie gemacht haben: /Ausbeutung und Unordnung, tierisch und also / Unverständlich.“ In Mahagonny jedoch ist selbst die historische Ableitung der Form hinfällig, so wie es in der Krise ab einem bestimmten Punkt gleichgültig werden kann, ob der einzelne nun mehr als seine Arbeitskraft besitzt oder nicht: „Können uns und euch und niemand helfen“. Durch die Erkenntnis solcher Ohnmacht hindurch seiner selbst mächtig werden, das könnte zugleich als Inbegriff von Adornos Philosophie gelten.


Depersonalisierung und Freiheit
Es ist demnach triftig, wenn Adorno in der Kritik des Engagements ausführt, dass durch die „Personalisierung“ in Sartres Thesenstücken wie beim späteren Brecht die Macht der „anonymen Maschinerie“ ökonomischer Abhängigkeiten, die Abstraktheit des Gesetzes, das objektiv in der Gesellschaft waltet, auf hilflose Weise überspielt und unpersönlich gewordene Herrschaft verschleiert werde – als sei noch Leben „auf den sozialen Kommandohöhen“ [9]; und dass zu diesem Zweck oft Situationen mühsam konstruiert werden oder Parabeln aus der Welt weitgehend feudaler Verhältnisse herhalten müssen. So geraten Stücke und Romane zu Vehikel dessen, was der Autor sagen will, bebilderte Thesen, „zurückgeblieben hinter der Evolution der ästhetischen Formen“ [10] – wobei diese Evolution in der Moderne nichts anderes bedeuten kann, als dass in den ästhetischen Formen selber die Auseinandersetzung mit jener anonymen Maschinerie stattfinden muss, so wie Brecht es in Stücken wie Mahagonny und der Heiligen Johanna der Schlachthöfe noch versucht hatte. Gerade dieser Mangel an formaler Radikalität, den Adorno an Brechts Exilschaffen moniert hat, begünstigte letztlich, dass der inhaltliche Bruch mit den stalinistischen Kräften nicht wirklich zum Tragen kam.
Dennoch bleibt Adornos Kritik unentfaltet. Sagt er zurecht, Sartre habe mitgewoben „an dem Schleier der Personalisierung“, [11] wirft er seinerseits einen Schleier über die gesellschaftlichen Verhältnisse, soweit der Begriff der unpersönlichen Herrschaft, den er Brechts späten Parabelstücken und Sartres frühen Thesenstücken entgegenhält, die Differenz zwischen bürgerlicher Gesellschaft und nationalsozialistischem Unstaat zum Verschwinden bringt: die Differenz zwischen der anonymen Maschinerie der Verwertung, in der die persönlichen Motive der Bürger ebenso sich verselbständigen wie untergehen, und der anonymen Maschinerie der Vernichtung, die nur durch die selbständigen Aktivitäten der Volksgenossen höchstpersönlich verwirklicht werden kann. Exkulpiert Sartres Personalisierung das ubiquitäre Kapitalverhältnis, so Adornos Depersonalisierung die nationalsozialistischen Täter. [12] Hier liegt auch das Wahrheitsmoment von Brechts Intentionen, als er im Exil „von vorn“ anfing und jene Figuren schuf, die vor dem Hintergrund der früheren Produktion als Kompromiss erscheinen. Diese Stücke wollen – mit unterschiedlicher, aber kaum je überzeugender ästhetischer Konsequenz – zeigen, dass der einzelne frei und unfrei zugleich ist: unfrei, noch wo er sich frei glaubt: als Warenbesitzer; frei jedoch, das Schlimmste zu verhindern – nur steht dabei sein Leben auf dem Spiel, wie an der „stummen Katrin“ deutlich wird. So soll die Individualisierung, die Brecht nun an seinen Figuren wieder zulässt, mehr als ein leerer Schein sein, der vernichtet werden kann im Namen der Sache oder des Kollektivs; aber doch Schein, der durch den „Verfemdungseffekt“ weiterhin als solcher kenntlich bleibt, da er sich durchaus als ohnmächtig erweist gegenüber dem Wesen einer Gesellschaft, die auf Gewalt beruht.
Und hier liegt die Wahrheit von Sartres Bestimmung des Engagements: Sie ist aus der Erfahrung seiner Generation gewonnen – „seit 1940 waren wir im Zentrum eines Zyklons“; aus dem Imperativ, dem Zyklon der Vernichtung ein Ende zu bereiten: „Damit fühlten wir uns plötzlich situiert: das Überfliegen, das unsere Vorläufer so gern praktizierten, war unmöglich geworden.“ [13] Es ist immerhin merkwürdig, dass Adorno in diesem Kapitel über die „Situation des Schriftstellers im Jahre 1947“ aus Sartres Was ist Literatur? nicht das Pendant zu seinem eigenen Diktum erkennen kann, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, barbarisch sei. Doch seine Würdigung von Sartres Erkenntnis, dass es undenkbar ist, einen guten Roman zum Lobe des Antisemitismus zu schreiben [14], zeigt, worum es eigentlich gehen müsste. So wie an Brechts Exilproduktion die Szene der „jüdischen Frau“ aus Furcht und Elend des Dritten Reichs hervorzuheben wäre – einer Collage, die nun gar nicht auswich ins Parabolische. Sartres Réflexions sur la question juive könnten vielmehr als Kommentar zu der kurzen Szene gelesen werden, worin die Frau sich von ihrem nichtjüdischen Mann trennt: „Der Antisemitismus“, sagt Sartre, „ist eine freie und totale Wahl, eine umfassende Haltung, die man nicht nur den Juden, sondern den Menschen im allgemeinen, der Geschichte und der Gesellschaft gegenüber einnimmt.“ [15] Diese totale Wahl zeigt Brecht ganz diskret: Die Frau hatte bei ihrem Mann mehr und mehr Zeichen der Anpassung an die neuen Herren in Deutschland registrieren müssen. In seiner Abwesenheit probt sie nun ihren Abschied: „Du sitzt da und siehst deine Frau packen und sagst nichts. Die Wände haben Ohren, wie? Aber ihr sagt ja nichts! Die einen horchen, und die andern schweigen. Pfui Teufel. Ich sollte auch schweigen. Wenn ich dich liebte, schwiege ich. Ich liebe dich wirklich. Gib mir die Wäsche dort. Das ist Reizwäsche. Ich werde sie brauchen.“ Als dann der Mann ihr tatsächlich gegenübersteht, ist sie viel zurückhaltender: beide umgehen in ihrem Dialog die Wahrheit – nur an einem Gegenstand wird am Ende sichtbar, wie jämmerlich der Mann sich selbst betrügt, um seinen Verrat an der Frau zu kaschieren. (Wie schrieb Adorno nicht lange danach: „Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.“ [16]) Indem der Mann die Frau im Stich lässt, wird er eins mit denen, die ihr Leben in Gefahr bringen – einer Gefahr, der er sich selbst offenkundig nicht im Geringsten aussetzen möchte. Aber all das wird jetzt verschwiegen, von der Frau allerdings nur, weil doch für sie die Scham, die sie an seiner Stelle empfindet, unerträglich sein muss. Es ist Frühling im Jahre 1935 und sie sagt zu ihm: „Jetzt gib mir den Pelzmantel herüber, willst du?“ Er gibt ihr den Wintermantel mit den Worten „Schließlich sind es nur ein paar Wochen.“ Die Szene hat keinen Schlusspunkt: sie verzichtet ganz darauf, das, was aus der Entscheidung, die sie sichtbar macht, folgen wird, in irgendeiner Weise zusammenzufassen.
In seinem offenen Brief an Rolf Hochhuth von 1967 kommt Adorno an entscheidender Stelle auf dieses Stück zu sprechen, das er im Engagement-Aufsatz nicht beachtet hat. Bemerkenswert, dass er darin zunächst die Auffassung bestreitet, wonach es eine „anonyme Maschinerie“ gewesen sei, die den Nationalsozialismus gleichsam ausgebrütet habe, und zugleich die Schuldfrage nicht auf die herrschenden Klasse beschränkt wissen will: „Brecht hatte schon einen richtigen Instinkt, als er in ,Furcht und Elend des Dritten Reiches’ dessen Unwesen an den Bevölkerungen zeigte, nicht an den Herren. Dafür mußte er das traditionelle Pathos der Tragödienform preisgeben und zur Episode greifen, vielleicht auf Kosten des eigentlich Dramatischen, Konsequenz der phoneyness, die des Subjekts sich bemächtigt hat, seines gesellschaftlichen Scheins. Nur ist Brecht, indem er das politische Drama von dessen Subjekten auf die Objekte verschob, vermutlich noch nicht weit genug gegangen. Sie sind unvergleichlich mehr zu Objekten geworden, als er es sichtbar werden läßt. Unter diesem Aspekt sind die Beckettschen Menschenstümpfe realistischer als die Abbilder einer Realität, welche diese durch ihre Abbildlichkeit bereits sänftigen.“ [17] Vielleicht kann Beckett aber nur darum „weiter“ gehen, weil er nicht die Entscheidung selbst, wie in Brechts Szene, sondern deren Konsequenzen darstellt, die auf sie in ästhetischen Formen gar nicht mehr zurückgeführt werden können – und sich so das Ende von Mahagonny zu eigen macht. Die paar Sätze zwischen der jüdischen Frau und ihrem Mann aus Furcht und Elend des Dritten Reichs zeigen wiederum – eindringlicher als alles, was Brecht sonst geschrieben hat –, dass solche Entscheidungen, wenn überhaupt, nur am Rande des Schweigens darstellbar sind. Hier ist die Lyrik Paul Celans am weitesten gegangen.



[1] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 360.
[2] Ebd. S. 366.
[3] Ebd. S. 221.
[4] Der Moderator der Fernsehsendung, Marcel Reich-Ranicki, hat mit diesen Worten jedes Mal das Ende der Diskussion verkündet.
[5] Vgl. Theodor W. Adorno: Engagement. In: Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 416.
[6] Karl Marx: Das Kapital. Bd.1. MEW Bd. 23, S. 74.
[7] Karl Marx: Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, S. 274
[8] Bei dem Wort „Mensch“ in „Ich weiß nicht was ein Mensch ist“ (Takt 161), bereitet die Musik Hanns Eislers mit den (wie zuvor bei „Reis“ und „Baumwolle“) stur wiederkehrenden moll-Akkorden schon den gewaltsamen, das Kollektiv feiernden Triolen am Ende des Stücks den Boden und verrät: dieses Kollektiv hat gar keinen anderen Begriff vom Menschen.
[9] Adorno, Engagement, S. 415.
[10] Ebd. S. 414
[11] Ebd. S. 415
[12] Vgl. hierzu: Gerhard Scheit: Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno, Freiburg 2011, S.185ff.
[13] Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? In: Gesammelte Werke. Hg. v. Traugott König. Schriften zur Literatur. Bd. 2. Reinbek 1986, S. 165 u. 172.
[14] Adorno, Engagement, S. 420; Sartre, Was ist Literatur?, S. 53.
[15] Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage. Deutsch von Vincent von Wroblewsky. Reinbek 1994, S. 14.
[16] Theodor W. Adorno: Minima Moralia. In: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 124.
[17] Theodor W. Adorno: Offener Brief an Rolf Hochhuth. In: Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 594.
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