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Die Selbstzerstörung der Linken

Von Jean Améry zu Edward Said

von Gerhard Scheit

(Vortrag, gehalten auf der Konferenz "Es geht um Israel", Berlin 10-12. Mai 2002)

 
I

Der Antisemitismus ist im Antizionismus enthalten wie das Gewitter in der Wolke, schrieb Jean Améry 1969 in seinem Aufsatz über den "ehrbaren Antisemitismus" - der damit schließt, daß es keinen ehrbaren Antisemitismus geben könne, denn was der Antisemit, wie immer er auch auftrete, im Sinn habe, sei allein der Tod des Juden.
Wenn also der Antizionismus den Antisemitismus enthält wie die Wolken das Gewitter, dann braucht es nur einer gewissen Spannung, damit das eine aus dem anderen hervorgeht. Diese Spannung war damals mit dem Sechstagekrieg gegeben - aber der Antisemitismus der Neuen Linken kam in Deutschland dennoch wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Kaum waren da bis Mitte der sechziger Jahre irgendwelche Wolken zu sehen, die hatten sich alle im Osten zusammengezogen - in der Sowjetunion, Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, wohin man ja als neuer deutscher Linker - trotz mehrfacher Aufforderung - nicht wollte. Hier im Westen aber war fast ungetrübter blauer Himmel und die Sonne des Philosemitismus wärmte alle - ob links, ob rechts.
Innerhalb kürzester Zeit kippte die Position der Neuen Linken von einer verhalten proarabischen Neutralität mit gleichzeitigen Sympathien für Israel in eine aggressiv eindeutige Verurteilung Israels als imperialistisch-faschistisches Staatsgebilde während die Al Fatah in die vorderste Reihe des revolutionären Subjekts aus der Dritten Welt katapultiert wurde. "Keine Linke war vor 1967 so pro-israelisch, keine war danach so antizionistisch wie die deutsche" - schreibt Thomas Haury im Nachwort zu Léon Poliakovs Studie über den Antizionismus. Zumindest das letztere ist unbezweifelbar: "Nieder mit dem chauvinistisch-rassistischen Staatengebilde Israel", gab der Frankfurter SDS 1970 als Losung aus. Schon 1969 hatten es die anarchistisch-spontaneistischen Schwarzen Ratten/Tupamaros Westberlin, eine Vorläufergruppe des 2. Juni, nicht mehr bei Verbalinjurien belassen und am 31. Jahrestag der sogenannten "Reichskristallnacht" wurden in Westberlin mehrere jüdische Mahnmale mit den Worten "Schalom und Napalm" beschmiert. Im jüdischen Gemeindehaus wurde eine Brandbombe deponiert. Der wahre Antifaschismus, so lautete die Erklärung dazu, ist "die klare und einfache Solidarisierung mit den kämpfenden Fedayin." Denn "aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem amerikanischen Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen."
Dieser plötzliche Umschlag in der Hochphase der Studentenbewegung - der Sechstagekrieg fand ja unmittelbar nach der Ermordung von Benno Ohnesorg statt - mußte jemanden wie Jean Améry - von den Deutschen verfolgt, gefoltert und in mehrere Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert - das Fürchten lehren. Sein ganzer Text ist wie im Schockzustand formuliert: Schock darüber, daß ausgerechnet die Linke, der er sich zugehörig weiß, zu einem Faktor geworden ist, der die Existenz Israels und die Sicherheit der Juden unmittelbar gefährdet.
Améry möchte das revolutionäre Selbstbewußtsein dieser Neuen Linken ankratzen: darum spricht er mit böser Ironie von der Ehrbarkeit. Ehrbar kommt sich dieser Antizionismus vor, weil er vorgibt, der Revolution die Treue zu halten, die er in Wahrheit verrät: denn seine "Ehrbarkeit" beruht allein darauf: zu leugnen, daß der Nationalsozialismus für die Gegenwart noch irgendeine Bedeutung habe; darauf: nichts von der Situation wissen zu wollen, in der sich die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus befanden und befinden. Und diese Lage hat Améry wie kein anderer zur Sprache gebracht. "Niemand garantiert nichts. Das ist keine paranoide Phantasie und ist mehr als die menschliche Grundverfassung der Gefahr. Die Vergangenheit, die allerjüngste, brennt."
Aber kaum ein Linker in Deutschland spürte dieses Brennen. Beschwörend fordert Améry von der Linken, die sich selbst vergesse: Der Augenblick ihrer Besinnung und neuen geistigen Konstituierung sei gekommen. Aber der Augenblick verstreicht und nichts geschieht, Améry bleibt mit Schock, Beschwörung und Forderung allein - ob in der Berliner Akademie der Künste oder auf der Frankfurter Buchmesse, wo er überall zur Solidarität mit Israel aufrief. Alles - wirklich alles, was Améry danach geschrieben hat, ist von dieser Verlassenheit durchdrungen. Und eigentlich hat er - von seiner Schrift über den Freitod abgesehen - keine größere essaystische Arbeit seit dem Ende der sechziger Jahre mehr geschrieben, die nicht auch auf Israel Bezug nimmt, oder genauer, auf das Verhältnis der Linken und Intellektuellen in Deutschland zu Israel.
1976, zwei Jahre vor seinem Freitod, hielt er dann die Rede zur sogenannten "Woche der Brüderlichkeit" unter demselben Titel: "Der ehrbare Antisemitismus". Inzwischen hatte sich Israel ein weiteres Mal seiner Haut erwehren müssen: im Jom Kipur-Krieg von 1973, in dessen Folge die deutsche Linke noch antizionistischer wurde, als sie es ohnehin schon war. 1976 war das Jahr der Flugzeugentführung nach Entebbe mit der anschließenden Selektion jüdischer Passagiere; das Jahr auch der ersten Auseinandersetzungen um Faßbinders Stück: "Der Müll, die Stadt und der Tod". Amérys Rede verhallte abermals ungehört, sie wurde bestenfalls im Umfeld dieser christlich-jüdischen Gesellschaften bekannt. Sie erreichte vor allem die nicht, die sie erreichen wollte: die Linken. Nicht einmal Henryk M. Broder wußte damals etwas von Amérys Kritik und glaubte wirklich, überhaupt als erster zum Thema "Antizionismus - Antisemitismus von links" zu schreiben.
Bei Améry selbst ist der Schockzustand einer schneidenden Illusionslosigkeit gewichen, die sich nur noch verzweifelt auf die Aufklärung berufen kann: "Die Opferung des Juden ist bestes Herkommen, geheiligte Tradition. Man kommt nicht auf dagegen. Was soll da die 'Woche der Brüderlichkeit' zu der wir uns hier zusammengefunden haben? Ich gestehe meinen Pessimismus ein. Da ich aber nicht nur Pessimist von Geblüt, sondern Aufklärer dem Temperament nach bin und da zudem mein Leben lang meine Heimat ziemlich weit links auf der politischen Landkarte gelegen hat, will ich's mich nicht verdrießen lassen, hier ein paar Worte an meine Freunde aus dem linken Lager zu richten." Daß es wirklich seine Freunde waren, wird etwa durch seine Stellungnahme zum Hungerstreik der Baader-Meinhof-Gruppe von November 1974 dokumentiert, als Améry übers Fernsehen den Hungerstreikenden Mut zusprach. Daraufhin wurde ein Verfahren wegen "Billigung von Straftaten" gegen ihn eingeleitet.
In der Zeitschrift Merkur konnte seine scharfe Rede gegen den linken Antisemitismus offenbar nur unter der Bedingung publiziert werden, daß man ihr eine "Widerrede" von Erich Fried folgen ließ, worin Zionismus und Antisemitismus auf unerträgliche Weise gleichgesetzt werden. Dabei leugnete doch Améry keineswegs, daß es in Israel Rassismus gegenüber den Arabern gäbe ("Jeder bewaffnete Okkupant nimmt gegenüber dem waffenlosen Okkupierten die Allüre des Herrenmenschen an"), er protestierte insbesondere, als er von Folterungen erfuhr. Das ändert aber nichts an der existentiellen Bedeutung Israels, zeigt vielmehr, wie eng sich ein in der Diaspora lebender Jude mit ihr verbunden weiß. Worin diese Bedeutung besteht, sagt Améry unmißverständlich: "Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn zerstören möchte, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts anderes bewirken kann als solche Vernichtung, betreibt den Judenhaß von einst und von jeher. (...) Israel ist nicht nur das Land, in dem der Jude sich nicht mehr im Sinne Sartres das Eigenbild vom Feinde aufprägen läßt; es ist auch das virtuelle Obdach für alle erniedrigten und beleidigten Juden der Welt." Diese "Virtualität", diese Möglichkeitsform, ist, so Améry, "entscheidend. Die Möglichkeit, wann immer orgendwo in der Welt ein finsterer Narr auftauchen sollte, dessen idée fixe es wäre, die Juden auszutreiben, in Israel jenes Obdach zu finden (...) - diese Möglichkeit verbindet einen jeden Juden mit dem Schicksal des winzigen Staatswesens im Nahen Osten."
Bei den arabischen Führern sah Améry überall die Entschlossenheit, "den Staat Israel auszuradieren". Damit würde zweierlei sich ereignen, wovor heute schon dringlich zu warnen sei, denn es sei hohe, höchste Zeit: "die totale Verdammung" der Juden "und die Selbstzerstörung dessen, was gestern noch die Linke war. Dieser letztgenannte Prozeß ist in diesem Augenblick schon im Gange." Améry 1976. Und noch einmal wiederholt er seine Forderung:
Die Linke habe sich "am israelischen, id est: am jüdischen Problem neu zu definieren." Nachdem er selbst nach Israel gereist war, fügt Améry seiner Rede noch hinzu: "Daß die gesamte Konstellation, die seit Auschwitz unterschlagene 'Judenfrage' tragisch akktualisieren würde, ist schließlich die Konsequenz, der ins Auge zu schauen schon jetzt vonnöten ist."

II

Damit leistete Améry in seiner ganz isolierten Position wesentliches: er konkretisiert die Bedeutung des kategorischen Imperativs von Adorno genau an der entscheidenden Stelle. In der Negativen Dialektik steht: "Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe." Was aber heißt: Ähnliches?
In einem späten, im übrigen sehr wichtigen Text Adornos, den Marginalien zu Theorie und Praxis, wird deutlich, daß Adorno selbst an diesem Punkt den Linken nicht konkret genug widersprochen hat, sondern im Gegenteil, die Geltung des kategorischen Imperativs eigenartig verwischen konnte, um der Theorie einen aparten Status jenseits der drohenden gewaltsamen Auseinandersetzungen zuzuerkennen: Der Rückfall in die Barbarei, heißt es hier, habe bereits stattgefunden; und um zu bezeichnen, was er damit meine, nennt Adorno Auschwitz und Hiroshima in einem Atemzug - ohne dabei einen Zusammenhang zwischen beiden Geschehnissen irgend herzustellen. "Nach Auschwitz und Hiroshima" den Rückfall erst "für die Zukunft zu erwarten", höre "auf den armseligen Trost, es könne immer noch schlimmer werden." Die Barbarei hat unterschiedslos alles erfaßt und durchdrungen. "Gewalt, ist nach der Erfahrung des nationalsozialistischen und stalinistischen Grauens und angesichts der Langlebigkeit totalitärer Repression unentwirrbar verstrickt in das, was geändert werden müßte. (...) Entweder die Menschheit verzichtet auf das Gleich um Gleich der Gewalt, oder die vermeintlich radikale politische Praxis erneuert das alte Entsetzen." Die Minima moralia aus den vierziger Jahren wissen es besser: Nicht nur steht hier: Das Ganze ist das Unwahre, sondern auch das Motto (von F. H. Bradley): "Where everything is bad / it must be good / to know the worst." (Übrigens hat auch Günther Anders ein Verhältnis zwischen Auschwitz und Hiroshima erst hergestellt, als er die Rekation der Deutschen und Österreicher auf die Fernsehserie Holocaust beobachten konnte: "Nein, Auschwitz ist trotz der Tatsache, daß die Welt durch Auschwitzs, sondern durch Hiroshimas zugrundegehen wird, moralisch ungleich entsetzlicher gewesen als Hiroshima. Das betone ich, weil mir beim Durchblättern meiner Notizen der Verdacht kommt, daß ich an Auschwitz mit dem Vorurteil herangegangen bin, daß, was für eine Form des Massenmordes gelte, auch auf die andere zutreffe. Das ist aber falsch." Nicht vorstellen aber konnte sich Anders damals, was sich heute ankündigt: die Verbindung beider Formen.)
Die grundsätzliche Verneinung der Gegengewalt, die Adorno am Ende der sechziger Jahre formuliert hat, erscheint nicht als Antwort, sondern wie ein Ausweichen angesichts der Apologie der antizionistischen Gewalt unter den rebellierenden Studenten. Genau darauf machte Améry direkt und indirekt aufmerksam. Indem er festhält, worin "the worst" - das Schlimmste - zu sehen ist, hat er zur Sprache gebracht, was in der Vermittlung kritischer Theorie in Deutschland an Rationalisierungen zu kritisieren war - und niemand sonst kritisiert hat: "Es konnte keine gelehrigeren und keine begabteren Schüler geben als die Deutschen. Die Flucht in eine abstrakte Historizität rettete sie vor ihrer konkreten, eben erst katastrophal in ihrer eigenen äußersten Verdichtung zur Hölle gefahrenen Geschichte. Dialektische Geistesschärfe höchster Ordnung brachte das Irreduktible, was sich in diesem Land ereignet hatte, unter in einer keimfreien Denkstruktur. (...) Der Tod war kein Meister aus Deutschland."
Amérys Kritik zielt auf Bemerkungen Adornos und Horkheimers wie die, es gebe keine Antisemiten mehr; in der späten kapitalistischen Gesellschaft komme Antisemitismus nur noch als auswechelbarer Posten vor, da doch jede selbständige Regung universal reduziert werde auf die eine, gleiche abstrakte Arbeitsform. Die Reflexionen der eigenen Erfahrungen und die Einsichten im Begriff der "pathischen Projektion", wie sie der Dialektik der Aufklärung gelangen, bleiben davon allerdings unberührt; sie setzen sich in vielen Studien und Bemerkungen über den real existierenden Antisemitismus in Deutschland und in der Welt aus dem Umkreis des Instituts für Sozialforschung fort und liegen auch noch dem aktive Engagement Horkheimers für Israel bei Ausbruch des Sechstagekriegs oder der Bemerkung Adornos am Beginn einer Vorlesung genau zur selben Zeit zugrunde: "Es ist mir nicht möglich, die Vorlesung heute zu beginnen, ohne ein Wort zu sagen über die Berliner Vorgänge, so sehr diese auch überschattet werden von dem Furchtbaren, das Israel, der Heimstätte zahlreicher vor dem Grauen geflüchteter Juden, droht." Im Bewußtsein der damals rebellierenden Linken verhielt es sich nicht nur umgekehrt: das Schicksal des eigenen Aktivismus überschattete das Furchtbare, das Israel drohte, - die Linke selbst begann sich bereits mit dem Furchtbaren zu identifizieren.
So wird die Enttäuschung Jean Amérys verständlich. Sie läßt ihn selbst zeitweilig Zuflucht bei Jürgen Habermas suchen, der bekanntlich vom "linken Faschismus" gesprochen hatte. Es kann heute natürlich nicht darum gehen, Améry gegen Adorno, oder umgekehrt Adorno gegen Améry auszuspielen (- eher darum, beide im Widerspruch zu Habermas zu begreifen, bei dem schließlich schon damals Horkheimer antiamerikanische Tendenzen agnoszierte). Was heute vielmehr nötig und auch möglich ist, wäre, beider Erkenntnisse - noch dort, wo sie sich widersprechen - aufzunehmen, um sich über die veränderte Situation der Welt volles Bewußtsein zu verschaffen. Amérys Parteinahme für Israel hat in Erinnerung gerufen, was niemand anderer als Adorno kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als die "Nötigung" begriffen hat, der sich Kritik angesichts von Auschwitz nicht mehr entziehen kann: die "Nötigung, dialektisch zugleich und undialektisch zu denken".
Max Horkheimer hatte Ende 1948 in einem Brief aus Kalifornien geschrieben: "Gibt es in der Welt eine Menschengruppe, mit der wir a priori mehr zu tun hätten, als die wenigen Überlebenden, die in Deutschland in und nahe am Konzentrationslager dem Schrecken widerstanden haben? Sie sind einsam, versprengt und potentiell die einzige Gemeinschaft für uns." Es scheint, als hätte sich die deutsche Linke hier buchstäblich dazwischen gedrängt: statt von beiden Seiten aufzunehmen, von den Intellektuellen aus dem Exil und von einem Überlebenden der Lager und Widerstandskämpfer wie Améry, hat sie den einen ignoriert und die anderen links liegen gelassen. Und darin könnte die Fortsetzung der intellektuellen Misere Deutschlands gesehen werden.

III

Heute ist das, was damals der militante Antizionismus so plakativ ausgedrückt hat, in feinen, vielfältig abgestuften Formen - gleichsam kappillarisch - in den Israel-Diskurs der deutschen und europäischen Öffentlichkeit eingewandert, so daß die Bezeichnung Antizionismus bereits fast anachronistisch klingt oder wie ein Hinweis auf alte Polit-Folklore. Statt die Juden als die neuen Faschisten zu brandmarken und ihre militärische Verteidigung als Wiederholung des Holocaust an den Palästinensern zu deuten - Moshe Dayan als „Himmler Israels“ (RAF) -, wird Scharons Kriegserklärung an Arafats Regime und die Selbstmordattentäter ganz selbstverständlich mit "totaler Krieg" übersetzt und die Aktion selbst als "Vernichtungskrieg" bezeichnet. Statt die mörderische Forderung "Treibt die Juden ins Meer" offen zu tolerieren, fordert man human bescheiden das Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge, das diesselbe mörderische Konsequenz hätte; statt der Aktionen des "Schwarzen September" schätzt man den gehobenen Antizionismus von Edward Said.
Die antizionistische Linke in Deutschland hat sich nicht einfach erledigt, wie es noch in den neunziger Jahren erscheinen konnte, als sich im Nahen Osten eine Beruhigung andeutete.
Aber soweit sie sich jetzt wieder formiert, liegt sie eben voll im Trend - und sie tut sich darum einigermaßen schwer, aufzufallen neben einem Fernsehkommentator wie Wickert oder Politikern wie Lamers, Möllemann und Schröder. Es findet sich bei ihr kaum ein Widerspruch zu der Tendenz, die ohnehin die europäische und deutsche Politik bestimmt. Einst war sie mit ihrem ehrbaren Antisemitismus der deutschen Gesellschaft so weit voraus, daß es zwischen dem Pulk und der Avantgarde regelrecht zu Verständnisschwierigkeiten kam: die Springer-Presse verstand einfach nicht, wohin die deutsche Jugend marschieren wollte. Diese Verständnisschwierigkeiten sind nun beseitigt.
Kaum irgendwo zeigt sich diese Integration der Linken so deutlich wie an der Popularität eines Linksintellektuellen wie des schon erwähnten Edward Said. Als einer, der vom Marxismus kommt und den Antiimperialismus kulturwissenschaftlich verbreitet, der als Christ, nicht als Moslem erzogen wurde, ist er ein Vermittler zwischen palästinensischer und deutscher Ideologie ersten Ranges; ein hervorragender Vertreter des gesellschaftsfähig gewordenen Antizionismus - eben ein besonders ehrbarer Antisemit.
An seinen Schriften zeigt sich insbesondere, daß es nur in zweiter Linie um den Islam geht, in erster Linie aber um den Gesichtspunkt von Auschwitz und um die Position zu Israel. Gemäßigt erscheint Said, da er sich von den ordinären Holocaust-Leugnern distanziert, sie jedoch zugleich auch toleriert. (So zog er im Vorjahr seine Unterschrift unter den Aufruf an die libanesische Regierung zurück, der gegen die Abhaltung einer international besetzten Holocaust Denial-Konferenz in Beirut protestiert hatte. Gewiß sei er gegen die Leugnung des Holocaust; aber er sei auch dagegen, eine Regierung aufzufordern, die Meinungsfreiheit zu beschränken, ließ Said verlauten. Vgl. Cordelia Edvardson: Katastrophe der Anderen, Süddeutsche Zeitung, 5. 5. 2001.)
Tatsächlich war es Said selbst, der in früheren Aufsätzen und Büchern die Massenvernichtung der Juden ausgeblendet hat, wo es irgend möglich war. So im Nachwort zu Frieden in Nahost (1997), in dem der israelisch-palästinensische Konflikt "seinem Wesen nach" als eine Auseinandersetzung beschrieben wird, die zwischen der "palästinensisch-arabischen Ursprungsbevölkerung von Muslimen und Christen" und "einer in die Region eindringenden, in erster Linie aus dem Westen stammenden Siedlerbewegung" stattfinde, einer Siedlerbewegung "die aufgrund alttestamentlicher Verheißungen und von der Imperialmacht Großbritannien gemachter Versprechungen nach Palästina kam". Kein Wort davon, warum sie einwanderten; kein Wort von Antisemitismus und Nationalsozialismus.
Nun aber seit den späten neunziger Jahren sieht er sich offenkundig zu einer Korrektur veranlaßt, das dokumentiert sein neues Buch Das Ende des Friedensprozesses (2002): "Es gibt jedoch meines Erachtens nicht den geringsten Grund, angesichts der besonderen Tragödie des jüdischen Volkes nicht Schrecken und Abscheu zu empfinden." Noch indem er davon Abstand nimmt, diese Tragödie mit der der Palästinenser gleichzusetzen, setzt er sie gleich: "Beide dürfen nicht einfach gleichgesetzt werden. Weder das eine noch das andere rechtfertigt die gegenwärtige Gewalt, und es darf weder das eine noch das andere verharmlost werden. Es gibt genug Leid und Ungerechtigkeit für jeden."
Israel aber beschreibt Said als ein künstliches Gebilde, hinter dem eine ungreifbare und unnennbare Macht stehe: der zionistische Staat könne "auf bedeutende außerstaatliche Herrschaftsmittel zurückgreifen." Über diese "außerstaatlichen Herrschaftsmittel" erfährt man nichts genaues - in diesem Zusammenhang spricht Said von "Wühl-Tätigkeiten einer politischen Lobby". So phantasiert der aufgeklärte Antizionist in alter Weise das "jüdische Kapital" oder besser: das Judentum als Kapital. "Die äußerst einflußreiche jüdische Gemeinschaft in Amerika" dränge "dem israelischen Willen immer noch Geld und eine reduzierte Sichtweise auf." Israel erscheint als Instrument dieser jüdischen Gemeinschaft, und sie umfaßt nicht bloß die amerikanischen Juden - Antisemitismus zielt eben immer auf Totalität: "Während der letzten hundert Jahre blieb kein Jude vom Zionismus unberührt (...)." Antisemitisch ist diese Formulierung, weil sie nicht ausspricht, in welcher Weise jeder Jude davon berührt ist - weil sie über den Antisemitismus schweigt.
Es ist kein Zufall, daß Said bereits 1997 etwas von dem ahnte, was kommen sollte: nämlich daß "wir einer mehrere Jahre dauernden dunklen Periode entgegengehen, während der die Palästinenser gegen große Hindernisse werden kämpfen müssen". Said ahnte es, weil er es selbst vorantrieb. Mit Artikeln und Büchern seit dem Friedensabkommen von Oslo hat Said auf die Wiederaufnahme und Intensivierung der Intifada gedrängt. Arafat warf er sofort nach dem Friedensabkommen vor, er habe "die Intifada einseitig abgebrochen"; Massaker an Israelis werden als "Akt der Schwäche und Verzweiflung" präsentiert, nichts als die Folge der israelischen Gewalt. Während Said nach dem 11. September immer wieder betont, daß Israel die Situation "zynisch" ausbeute, indem es den Anschlag auf das World Trade Center mit dem palästinensischen Widerstand verknüpfe, plaudert er selbst den inneren Zusammenhang beider Phänomene aus, wenn er in einer überraschenden selbstkritischen Wendung sagt: "warum glauben wir noch immer an ebendie verschwommenen ideologischen Verheißungen erlösender Gewalt, die sich kaum von dem Gift unterscheiden, das von Bin Laden und den Islamisten versprüht wird?"
Das Bündnis mit Europa hat Said schon sehr früh avisiert: die "Rolle der USA bei alldem" könne darum so "außerordentlich negativ" sein, "weil sich Europa politisch sehr passiv" verhalte. Im neuen Buch fordert er dann die Deutschen auf, "die notwendige Verbindung zwischen ihrer Geschichte und unserer zu ziehen (und sie nicht zu leugnen) und dann den notwendigen Schluss zu ziehen. Deutschland hat noch eine Verantwortung, der es sich nicht länger entziehen kann."
Worauf all das hinauszulaufen droht, das gibt eine einzige Formulierung (aus Frieden in Nahost) schlagartig zu erkennen: Said bezeichnet das Friedensabkommen von Oslo als "ein palästinensisches Versailles". Diese Bemerkung muß man sich wirklich in allen Konnotationen bewußt machen. Daß hier eine klassisch nationalbolschewistische Deutung der deutschen Geschichte vorausgesetzt wird, ist klar (Martin Walser hat sie in seinem jüngsten Gedankenaustausch mit Gerhard Schröder nachhaltig bekräftigt): dem von den Siegern des Ersten Weltkriegs diktierten Friedensvertrag von Versailles fällt demnach die eigentliche Schuld an der Entstehung des Nationalsozialismus zu. Von dieser Voraussetzung aus läßt die Assoziation des Osler Friedensvertrags mit Versailles erkennen, mit welcher Nation und welcher nationalen Geschichte dieser palästinensische Intellektuelle spontan sich identifiziert und welche, aus der Vergangenheit bekannten, politischen Verbrechen er den arabischen Staaten und Rackets in Zukunft zutraut; darin aber spricht sich eine Drohung gegenüber den Israelis aus, die in ihrer Unheimlichkeit wirklich etwas vom inneren Wesen der Selbstmord-Attentate verrät: der Holocaust erscheint in dieser Perspektive schließlich auch als ein "Akt der Schwäche und Verzweiflung" - eben des deutschen Volks. (Übrigens hat der deutsche Friedensfreund Ludwig Watzal inzwischen diese Formulierung vom "palästinensischen Versailles" in der Zeitschrift für Friedenpolitik: Friz dankbar aufgegriffen; vgl. hierzu Ein deutscher Friedensfreund .)
Erschreckend ist, daß die Ungeheuerlichkeit solcher Aussagen kaum noch wahrgenommen wird; daß niemand mehr darüber erschrickt. Die Ungeheuerlichkeit besteht ja darin, daß es keine leere Drohung ist, die hier formuliert wird; die Analogisierung mit Versailles verweist darauf, daß der Friedensvertrag von Oslo es erst ermöglicht hat, die Infrastruktur, die ideologischen Staatsapparate und die einzelnen Rackets jenes suicide bombing in den Gebieten der palästinensischen Autonomiebehörde kontinuierlich aufzubauen. All das, was nun unter entsetzlichen Umständen von der israelischen Armee wieder beseitigt werden muß.
Aber die Ungeheuerlichkeit solcher Drohung und Bedrohung geht in einem schleichenden Prozeß der öffentlichen Relativierung unter. Alles verschwimmt, was Jean Améry in unmißverständlicher Klarheit noch ausdrücken konnte: der ehrbare Antisemitismus als eine der Möglichkeiten, daß Auschwitz sich wiederhole.
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