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Djihad und Judenhass

Der 11. September als antisemitisches Fanal

von Matthias Küntzel (Hamburg)

 
Welche politische Anschauung trieb Mohammed Atta, den Anführer der Todespiloten vom 11. September, zu seiner Tat? "Ein ,nationalsozialistisches Weltbild' attestierten ihm Teilnehmer der Koran-Runden", berichtete der Spiegel am 2. September 2002. ",Die Juden', das waren für ihn die reichen Strippenzieher der Medien, der Finanzwelt, der Politik, und natürlich steckten auch hinter dem Einsatz der Amerikaner am Golf die Juden, hinter den Kriegen auf dem Balkan, in Tschetschenien, überall. Wer waren die Täter in Ägypten, die die Architektur, die Kultur, letztlich den gesamten Islam ausrotten wollten? Klar, die Juden. Und ,das Zentrum des Weltjudentums', so sah es Atta, war New York. Atta wünschte sich einen Gottesstaat vom Nil bis zum Euphrat, frei von Juden, und sein Befreiungskrieg musste in New York beginnen." (Spiegel 36/2002, S. 117)
Attas obsessiver Judenhass, den seine Finanziers von al-Qaida teilen, wie deren Stellungnahmen zeigen, war offenkundig das Hauptmotiv für den Massenmord in Washington und New York. Dies ist wenig überraschend. Denn das Muster des suizidalen Massenmords, das Atta und seine Leute befolgten, war 11. September bereits wohl bekannt: Am 1. Juni 2001 riss ein Hamas-Angehöriger 21 Jugendliche im Eingangsbereich einer Diskothek bei Tel Aviv mit in den Tod. Am 9. August 2001 sprengte sich ein weiterer Islamist in der überfüllten Pizzeria Sabbaro in Jerusalem in die Luft und tötete 16 Gäste. Schon im September 2001 lag die Mutmaßung, dass zwischen diesen drei Anschlägen ein Zusammenhang besteht, somit auf der Hand.
Dennoch wird in den deutschen Debatten über die Septembermassaker gerade das antisemitische Motiv wenig thematisiert. Entweder wird aus Mangel an Aufgeklärtheit Abgeklärtheit markiert und der Judenhass vollständig ausgeblendet. So behauptet Oliver Tolmein fast ein Jahr nach dem 11. September, dass "das Wissen über die Täter und ihre Motive gering" sei.
"In welchem Koordinatenkreuz (der Anschlag) zu bewerten ist, kann derzeit nicht bestimmt werden."(Jungle World vom 21. August 2002) Oder der Antisemitismus wird zur Nebensache erklärt, indem "die bittere Erfahrung von Ohnmacht und Unterlegenheit" mit den Anschlägen des 11. September in eine Verbindung gebracht und erklärt wird: "Sich dieser erwehren zu wollen, ist heute Kern der Ideologie von al-Qaida und deren Angriff auf die USA", so Jochen Müller von der Zeitschrift iz3w.
Wer den Islamismus überhaupt näher untersuchen will, orientiert sich in der Regel an den von tiefster Sympathie geprägten Darstellungen deutscher Islamwissenschaftler. So wird in Anlehnung an den "Islam-Autor" Albrecht Metzger behauptet, dass der Islamismus in den sechziger Jahren "aus dem Scheitern emanzipatorischer Bewegungen" entstanden sei und die Ziele des arabischen Sozialismus mit islamisch eingefärbter Terminologie übernommen habe. (konkret 12/2001)
In Wirklichkeit ist der Islamismus nicht in den Sechziger-, sondern in den Dreißigerjahren entstanden. Sein Aufstieg wurde nicht vom Scheitern des Nasserismus, dafür jedoch vom europäischen Faschismus inspiriert. Bis 1951 waren sämtliche Mobilisierungskampagnen der Islamisten nicht antikolonial, wohl aber antijüdisch orientiert. Es war die 1928 in Ägypten gegründete Organisation der "Muslimbrüder", die den Islamismus als Massenbewegung begründete. Bis heute sind die Muslimbrüder
für den Islamismus das, was die Bolschewiki für die kommunistische Bewegung des 20. Jahrhunderts waren: der ideologische Bezugspunkt und der organisatorische Kern, der alle nachfolgenden Tendenzen, einschließlich der al-Qaida, maßgeblich inspirierte und bis heute inspiriert.
Zwar waren es die Auswirkungen der britischen Kolonialpolitik, die den Islamismus als Widerstandsbewegung gegen die "kulturelle Moderne" hervorbrachten und den Ruf nach einer neuen Scharia-Ordnung provozierten. Dennoch wurde der Djihad der Muslimbrüder nicht an erster Stelle gegen die Briten geführt. Er wurde auch nicht gegen die französische Kolonialmacht geführt und ebenfalls nicht gegen die ägyptische herrschende Klasse, die mit den Briten kooperierte. Die Djihad-Bewegung der Muslimbrüder nahm fast ausschließlich den Zionismus und die Juden in ihr Visier. Nicht als antikoloniale, sondern als antijüdische Bewegung wurden die Muslimbrüder zur Massenorganisation. 1936 zählten sie 800 Mitglieder, 1938 waren es 200.000.
Dazwischen lag ihre erste große gegen Juden und Zionisten gerichtete Mobilisierungskampagne. Auslöser war der vom Mufti von Jerusalem 1936 initiierte Aufstand in Palästina. "Nieder mit den Juden" und "Juden raus aus Ägypten und Palästina" lauteten die Parolen der Massendemonstrationen, die die Bruderschaft daraufhin in den ägyptischen Großstädten organisierte. Auf Flugblättern rief sie zum Boykott jüdischer Waren und Geschäfte auf. In ihrer Zeitschrift al-Nadhir wurde eine regelmäßige Kolumne mit der Kopfzeile: "Die Gefährlichkeit der Juden von Ägypten" etabliert. Darin wurden die Namen und Adressen von jüdischen Geschäftsinhabern und Besitzern angeblich jüdischer Zeitungen aus aller Welt veröffentlicht und alles Böse - vom Kommunismus bis zum Bordell - auf die "jüdische Gefahr" zurückgeführt.
Viele Aktionsmuster und Inhalte waren somit dem Nationalsozialismus entlehnt. Die Muslimbrüder riefen zusätzlich jedoch dazu auf, "sich in allen Teilen Ägyptens für den Djihad zur Verteidigung der Aqsa-Moschee (in Jerusalem, M.K.) zur Verfügung zu stellen." Dieser Djihad-Ruf war in der damaligen muslimischen Welt ungewöhnlich und neu. Denn erst die Muslimbrüder hatten die Idee des kriegerischen Djihad und die Todessehnsucht als Leitideal des Märtyrers für die Neuzeit entdeckt. 1938 machte Hassan al-Banna, der charismatische Gründer der Muslimbrüder, die Öffentlichkeit in einem Aufsatz unter der Überschrift "Die Todesindustrie" erstmals mit seinen Djihad-Vorstellungen vertraut - einer Vorstellung, bei der das Wort "Todesindustrie" nicht den Horror, sondern das Ideal beschreibt.
Al-Banna: "Derjenigen Nation, welche die Industrie des Todes perfektioniert und die weiß, wie man edel stirbt, gibt Gott ein stolzes Leben auf dieser Welt und ewige Gunst in dem Leben, das noch kommt." (Zit. nach Abd Al-Fattah Muhammad El-Awaisi, The Muslim Brothers and the Palestine Question 1928-1947, London 1998) Diese Losung stieß bei den "Truppen Gottes", wie die Muslimbrüder sich nannten, auf begeisterte Resonanz. Wann immer ihre Bataillone in semi-faschistisch geordneter Formation durch die Straßen Kairos marschierten, erklang ihr Lied: "Wir haben keine Angst vor dem Tod, sondern wir ersehnen ihn ... Wie wundervoll der Tod ist. ... Lasst uns für die Erlösung der Muslime sterben." Diese in den dreißiger Jahren erstmals ausformulierte Djihad-Idee war mit dem antisemitischen Impuls also von Anfang an verquickt.
Der Antisemitismus der Muslimbrüder speiste und speist sich nicht nur aus europäischen, sondern zugleich aus spezifisch islamischen Einflüssen. Erstens gilt Palästina den Islamisten als normales muslimisches Einflußgebiet (Dar al-Islam), in welchem Juden kein einziges Dorf, geschweige denn einen Staat beherrschen dürften. Zweitens kann entlang der Kampflinie Jude-versus-Muslim die Erinnerung an die antijüdischen Kämpfe Muhammads in Medina aus dem 7. Jahrhundert revitalisiert werden: Nach dem Vorbild Muhammads, der der Legende zufolge zwei jüdische Stämme aus Medina vertrieb, sämtliche Mitglieder des dritten Stammes aber töten oder in die Sklaverei verkaufen ließ, wird heute die Vertreibung und Tötung der Juden aus Palästina propagiert. Drittens verhilft diese Feindbestimmung scheinbar dem Diktum des Koran, die Juden seien die schlimmsten Gegner aller Gläubigen, zu seinem Recht. Doch erst nach dem 8. Mai 1945 erreichte die ideologische Annäherung der Muslimbrüder an den Nationalsozialismus ihren Höhepunkt. Schon im November 1945 kündigte sich eine Verschiebung des antisemitischen Zentrums von Deutschland in die arabische Welt an. In diesem Monat verübten die Muslimbrüder in Kairo und Alexandria die größten antijüdischen Pogrome in der Geschichte Ägyptens: Demonstranten fielen aus Anlass des Jahrestages der Balfour-Erklärung in das jüdische Viertel Kairos ein, plünderten dort Häuser und Geschäfte, griffen Nicht-Muslime an, verwüsteten die Synagogen und steckten sie schließlich in Brand. Sechs Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt. Einige Wochen später gingen die Zeitungen der Islamisten "zum Frontalangriff auf die ägyptischen Juden als Zionisten, Kommunisten, Kapitalisten, Blutsauger, Waffen- und Mädchenhändler oder ganz generell als ,zersetzendes Element' aller Staaten und Gesellschaften über." (G. Krämer, Minderheit, Millet, Nation? Die Juden in Ägypten 1914-1952, Wiesbaden 1982) 1946 sorgten darüberhinaus die Muslimbrüder dafür, dass der als Kriegsverbrecher gesuchte Himmler-Freund Amin el-Husseini in Ägypten Exil und eine neue politische Wirkungsstätte erhielt. In seiner Funktion als Mufti von Jerusalem und Führer der palästinensischen Nationalbewegung hatte el-Husseini, der seit Anfang der 30er Jahre zu den engsten Verbündeten der Muslimbrüder gehörte, die Shoa mehr als jeder andere arabische Politiker unterstützt und vorangetrieben. Mit der Amnestierung dieser prominenten islamischen Autorität wurde aber für einen großen Teil der arabischen Welt zugleich auch der Nationalsozialismus und dessen Antisemitismus rehabilitiert. Scharenweise strömten nunmehr die in Europa gesuchten Nazis in die arabische Welt. Massenhaft wurden in den folgenden Jahrzehnten die Protokolle der Weisen von Zion von zwei ehemaligen Mitgliedern der Muslimbruderschaft - Gambal Abdel Nasser und Anwar as-Sadat – verbreitet und unterstützt. Diese Mufti-Politik der Muslimbrüder und ihre antisemitischen Gewaltakte wenige Monate nach Auschwitz zeigen bereits an, wie die Shoa von den Islamisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit 500.000 Mitglieder und weiteren 500.000 Sympathisanten in Ägypten den Höhepunkt ihres Einflusses erreichten, wahrgenommen wurde: Die Vernichtung der europäischen Juden wurde wenn nicht gar gerechtfertigt so doch stets ignoriert. Die Folgen dieser historiographischen Leerstelle sind immens und bestimmen bis heute den arabisch-jüdischen Konflikt. Denn solange der Islamismus die Shoa leugnet, wird er damit fortfahren, die internationale Rückendeckung, die die Gründung Israels 1947 durch die Vereinten Nationen erfuhr, ausschließlich unter Rückgriff auf antisemitische Denkmuster, also verschwörungstheoretisch zu erklären: als ein von Juden gelenkter Angriff der USA und der Sowjetunion gegen das Arabertum.
Dementsprechend wurde der Teilungsbeschluss für Palästina, den die Vollversammlung der Vereinten Nationen 1947 verabschiedete, von den Muslimbrüdern als ein "internationales Komplott" interpretiert, "ausgeführt von den Amerikanern, den Russen und den Briten unter dem Einfluss des Zionismus." Diese Theorie der Weltverschwörung suchte somit die Juden unmittelbar nach Stilllegung der Gaskammern zur weltbeherrschenden Macht zu stempeln. Mithin fand die in Deutschland seit dem 8. Mai 1945 unterdrückte Wahnidee in der arabischen Welt, in der die Muslimbrüder inzwischen über eine millionenstarke Anhängerschaft verfügten, ihr seither wirkungsmächtigstes Exil.
Dies zeigt besonders deutlich die 1988 verabschiedete Charta der Muslimbrüder von Palästina, kurz: Hamas. Sie stellt das wichtigste programmatische Dokument des Islamismus in der Gegenwart dar und reicht in ihrer Bedeutung über den Palästina-Konflikt weit hinaus. Die Hamas begreift sich darin als "universalistische Bewegung", deren Djihad von den Muslimen in allen Teilen der Welt zu unterstützen sei.
Dementsprechend wird als Gegner nicht allein Israel ausgemacht, sondern der "Welt-Zionismus" ergo: das "Weltjudentum". Die Hamas, heißt es in der Charta, sei "die Speerspitze und die Avantgarde" im Kampf gegen den "Welt-Zionismus".
Und so, als hätten die Autoren dieser Charta beim Abfassen ihres Textes die Seiten der Protokolle der Weisen von Zion offen aufgeschlagen neben sich liegen gehabt, werden dem "Welt-Zionismus" alle Bösartigkeiten der Weltgeschichte unterstellt: "Die Juden standen hinter der Französischen Revolution und hinter der kommunistischen Revolution". Sie standen "hinter dem Ersten Weltkrieg, um so das islamische Kaliphat auszuschalten ... und standen auch hinter dem Zweiten Weltkrieg, in dem sie immense Vorteile aus dem Handel mit Kriegsmaterial zogen." Sie veranlassten "die Gründung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrats, ... um die Welt durch ihre Mittelsmänner zu beherrschen. Es gab keinen Krieg an irgendeinem Ort, der nicht ihre Fingerabdrücke trüge." In ihrem Kampf um Weltherrschaft würden sie im Anschluss an "Palästina ihre Expansion vom Nil bis zum Euphrat" vorantreiben, um anschließend "nach mehr Expansion zu streben". In Artikel 32 der Charta, wird endlich auch das Original benannt: "Das Programm der Zionisten wurde in den Protokollen der Weisen von Zion ausgebreitet und ihr gegenwärtiges Verhalten ist der beste Beweis für das, was dort gesagt wurde."
Man möchte über derartigen Irrsinn lächeln, wie einst über das Gebrabbel eines Adolf Hitler gelächelt wurde. Doch eben diese wahnwitzige Abstempelung der Juden zum absoluten Bösen und zum Weltübel ist es, die der islamistischen Begeisterung über die suizidalen Massenmorde an israelischen oder US-amerikanischen Zivilisten das Motiv verleiht. Mit ihrer massenmörderischen Umsetzung dieser Charta setzen die palästinensischen Muslimbrüder unter dem Beifall der Islamisten aus aller Welt die Politik des Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, nahtlos fort. Kann es angesichts dieser Zusammenhänge noch verwundern, dass diejenigen, die Mohammed Atta aus gemeinsamen Koran-Runden kannten, ihm ein "nationalsozialistischen Weltbild" attestierten? Ist es angesichts der Tatsache, das einer der Gründer der Hamas, der Palästinenser Abdullah Azzam, zugleich wichtigster Lehrer und Mentor Osama bin Ladens gewesen war, erstaunlich, dass dieser "den Juden" den Vorwurf macht, "Amerika und den Westen als Geiseln genommen" zu haben? In Deutschland jedoch, im Land der Mörder, dessen Bevölkerung die antisemitische Vernichtung um der Vernichtung willen vor 60 Jahren erfolgreich und ungehindert praktizierte und die den ideologischen Antrieb für jene Vernichtung besser als jeder andere Bevölkerung dieser Erde versteht und kennt, ausgerechnet in Deutschland also will man von dieser antisemitischen Dimension des 11. September nichts sehen und nichts wissen. Schon die achtlos präsentierte Spiegel-Enthüllung über Attas Weltanschauung blieb hierzulande ohne Resonanz. Von den wichtigsten programmatischen Texten des islamistischen Antisemitismus - der "Charta" der Hamas von 1988 und dem 1950 veröffentlichten Aufsatz "Unser Kampf mit den Juden" von Sayyid Qutb - liegen bis heute nicht einmal deutsche Übersetzungen vor. Die deutsche Islamwissenschaft wird hieran kaum etwas ändern wollen: Weder in ihrer Interpretationen der "Charta" noch in ihren sonstigen Darstellungen des Islamismus taucht der Begriff des Antisemitimus auch nur auf. Dies und die Tatsache, dass bei der unendlichen journalistischen Motivforschung für die suizidalen Massenmorde gegen israelische und US-amerikanische Zivilisten das Programm der Hamas nicht einmal zur Kenntnis genommen wurde - das Selbstverständlichste also nicht geschah! – verleiht der 1969 formulierten Warnung Léon Poliakovs neue Aktualität: "Wer den Antisemitismus in seiner primitiven und elementaren Form nicht anprangert, und zwar gerade deshalb nicht, weil er primitiv und elementar ist, der muß sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht dadurch den Antisemiten in aller Welt ein Zeichen heimlichen Einverständnisses gibt."

Matthias Küntzels Buch "Djihad und Judenhass" ist im Freiburger ca ira-Verlag erschienen.
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