Die so
genannten Antideutschen geistern seit gut 15 Jahren durch die
bundesrepublikanische politische Diskussion. Ihre Geschichte beginnt
Ende der achtziger Jahre, als sich Angehörige der radikalen Linken
auf Jean Améry besannen, der seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 immer
wieder betont hat, dass die Linke sich im Kampf gegen Antisemitismus
und Antizionismus neu zu definieren habe. [1] Mit der Zeit hat sich
eine eigenständige Strömung gesellschaftskritischen Denkens
etabliert, die sich der Aufmerksamkeit des deutschen
Verfassungsschutzes ebenso sicher sein kann wie jener von
österreichischen, deutschen und israelischen Tageszeitungen. [2]
Mit den
Antideutschen haben sich innerhalb der Linken Gruppierungen
herausgebildet, die sich als explizit proisraelisch begreifen und
dadurch mit der langen Tradition des linken (insbesondere des
linksradikalen) Antizionismus gebrochen haben. Die anfängliche
Kritik dieser "antideutschen" Kommunisten an einem linken
Antisemitismus, welche die Kritik an den vorherrschenden Ausprägungen
linker Israel-Feindschaft implizierte, wurde sowohl in Teilen der
politischen als auch der akademischen Linken begrüßt und
aufgegriffen. Die aus dieser Kritik resultierende Parteinahme für
den israelischen Staat stieß jedoch auf schroffe Ablehnung.
Insbesondere seit Beginn der so genannten Al-Aqsa-Intifada ist diese
Parteinahme mit dem Vorwurf des Philosemitismus konfrontiert. Die
Solidarität mit Israel resultiere nicht aus einer Auseinandersetzung
mit dem realen Konflikt im Nahen Osten, sondern aus einer
"Überidentifikation" mit Juden und Jüdinnen sowie aus der
"Projektion" links-deutscher Befindlichkeiten auf Israel.
Diese
Vorwürfe gehören zum Standardrepertoire der traditionellen Linken,
wenn sie auf Diskussionsveranstaltungen, in Internetforen oder in
Szenezeitschriften über die antideutsche Kritik verhandelt. [3] Sie
wurden jedoch auch mehrfach in wissenschaftlichen Arbeiten sowie in
journalistischen und essayistischen Texten mit einiger Reichweite
formuliert.
In dem in
der Internet-Enzyklopädie Wikipedia zu findenden Eintrag zum
Philosemitismus wird ein "antideutscher Philosemitismus" als
Beispiel angeführt. [4] Isabel Erdem meint in der Zeitschrift der
Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Antideutschen würden solch einen
Philosemitismus gegen den Antisemitismus in Anschlag bringen. Das
Problematische dabei sei, dass "beim Philosemitismus jüdische
Personen (...) ebenso als homogene Masse betrachtet (werden), wie
dies beim Antisemitismus der Fall ist, nur dass die Vorzeichen
umgekehrt sind". [5] Autoren aus der autonomen Szene meinen, die
Antideutschen würden "die in der eigenen Gesellschaft aufgegebenen
Emanzipations- oder Revolutionshoffnungen auf ein entferntes
nationalstaatliches Projekt" projizieren. [6] Franz Schandl spricht
hinsichtlich der antideutschen Kritik von einem "religiös
gewordenen Bezug auf Israel". [7] Dem "linksradikalen
Philosemitismus" sei Israel "das neue Ersatzsubjekt für
Arbeiterklasse und Kommunismus". [8] Bernhard Schmid hat dem Vorwurf
der Projektion eine eigene Broschüre gewidmet. [9]
Traditionskommunisten sehen in dem den Antideutschen unterstellten
Philosemitismus die Übernahme der "BRD-Staatsdoktrin" [10] durch
ehemals linke Kräfte. Robert Misik erklärt die antideutsche
Strömung zur "groteskesten Narrentruppe deutschen Schuldkomplexes".
[11]
Robert Kurz
zufolge handelt es sich bei der antideutschen Kritik um eine
"neurotische Überidentifikation" [12] mit Israel, bei der es "in
Wahrheit nicht um Israel und den Nahost-Konflikt" [13] gehe. In der
antideutschen Kritik an der Instrumentalisierung linker jüdischer
Israelis als Kronzeugen in der deutschen und österreichischen
Nahost-Debatte könne "es schon mal vorkommen, dass in der Erregung
die antisemitische Hundezunge aus dem
überidentifikatorsich-philosemitischen antideutschen Rachen bleckt".
[14]
Die
antideutsche Linke propagiere und zelebriere "eine Form der
Israel-Begeisterung, die sich mit den Maximalpositionen der
israelischen Rechten deckt". [15] Die "Wortführer" der
antideutschen Linken suchten "in ihrem Israel-Kult vor allem nach
Bestätigung ihrer vergangenheitspolitisch motivierten
Deutschland-Kritik". [16] Bei den Antideutschen verwandle sich die
Antisemitismuskritik "zu einer identitätsstiftenden Ware". Man
bekenne sich "zu Israel wie in den siebziger Jahren zu Kampuchea".
[17] Mehr noch: Die antideutsche Kritik reproduziere "in ihrem
klebrigen Philosemitismus antisemitische Stereotype wie die
Personifizierung politischer Verhältnisse, krudeste
Verschwörungstheorien und die Relativierung der Shoah. Denn der
Philosemitismus romantisiert und homogenisiert die jüdische
Bevölkerung und verwendet dazu fast dieselben Stereotypen wie der
Antisemitismus, nur bewertet er sie umgekehrt." [18]
Im
"Philozionismus" der antideutschen Linken würden Juden "als
idealtypische Verkörperung zum Objekt von Liebe und Mitgefühl und
dienen (...) als Projektionsfläche, als selbst geschaffenes Bild,
als Fetisch". [19]
Schon 1991
war die antideutsche Kritik, welche damals in dem Zusammenschluss
"Radikale Linke" noch von einem heterogeneren Spektrum formuliert
wurde als heute, mit dem Vorwurf des "Philozionismus" konfrontiert
[20] - ein Begriff, der in den Auseinandersetzungen zum
Philosemitismus selten gebraucht wird. Christina Späti verwendet ihn
zur Charakterisierung der deutschsprachigen proisraelischen Linken
der fünfziger und sechziger Jahre. [21] Gerne wird er auch von
Rechtsextremisten zur Diffamierung der Linken verwendet. Der
Freiheitliche Akademikerverband Salzburg attestiert beispielsweise
dem VSStÖ, dem sozialdemokratischen Studierendenverband in
Österreich, seinen Antifaschismus "ausschließlich in einem
Philozionismus" zu präsentieren. [22] Josef Ginsburg, der unter dem
Pseudonym "J.G. Burg" publizierte und in einem Nachruf des
Rechtsextremisten Max Wahl als "unser jüdischer Freund und
Mitstreiter" [23] bezeichnet wurde, sah in der BRD einen
"Philozionismus", der "schäbiger, hässlicher, dümmer und
schlimmer" sei als "offener Antisemitismus". [24] Der bekennende
Antizionist Edward Said attestierte Jean-Paul Sartre einen
"fundamentalen Philozionismus". [25] In der aktuellen Diskussion
über die antideutsche Kritik wurde der Begriff von Klaus Holz,
Elfriede Müller und Enzo Traverso in Anschlag gebracht [26] und hat
zu zahlreichen Reaktionen seitens der Kritisierten geführt. [27]
Während
der Begriff bei Späti in analytischer Absicht gebraucht wird, hat er
sowohl bei den Rechtsextremen als auch bei den Antizionisten und den
Kritikern der Antideutschen eine politische Funktion. Der Begriff des
Philosemitismus eignet sich nicht nur zur Kritik an jenem
merkwürdigen Interesse für jüdische Religion und Gebräuche,
dessen Nähe zum Antisemitismus außer Frage steht und das man von
KZ-Kommandanten ebenso kennt wie von christlichen Israel-Freunden,
sondern er kann als politischer Kampfbegriff auch zur Diskreditierung
der Antisemitismuskritik dienen. In ähnlicher Weise soll der Begriff
des "Philozionismus" in den aktuellen Debatten keine anders
geartete Solidarität mit dem zionistischen Projekt befördern,
sondern er dient der Aufkündigung jeglicher Form von
Israel-Solidarität.
Auch
Gerhard Hanloser meint, der Nahost-Konflikt sei in der antideutschen
Kritik "zur Projektionsfläche eines reichlich merkwürdigen
Kampfes mit der deutschen Vergangenheit geworden". [28] John Bunzl
übernimmt Kurz' Diagnose einer antideutschen "neurotischen
übermäßigen Identifikation mit Israel". Die Antideutschen würden
Israelis und Palästinenser "aus Gründen des eigenen psychischen
Haushalts" instrumentalisieren. Sie würden Solidarität mit "einem
imaginierten, idealisierten Kollektiv" üben. [29] Holz attestiert,
die Antideutschen würden sich "am Problem einer links-deutschen
Identität abarbeiten". [30]
Moshe
Zuckermann meint, in der gegenwärtigen Ideologiekritik "ideologisch
fanatisierte Israel-Solidarisierer" ausgemacht zu haben, die "keine
kleinere Pest" seien als jene, "die Israel aus antisemitischen
Beweggründen angreifen". [31] Die "solidarisierungswütigen
Israel-Freunde" hätten den "ausgepichten Israel-Feinden nichts
voraus". [32] Die Parteinahme für Israel wäre demnach also ähnlich
zu beurteilen und ebenso zu bekämpfen wie der Antisemitismus, was in
Zuckermanns Logik insofern folgerichtig ist, als er auch identische
Gründe für eine linke Solidarisierung mit Israel und für den
Antisemitismus sieht: "Ich meine auch, dass dieser Philosemitismus
dem gleichen Ressentiment entstammt wie der Antisemitismus." [33]
Der "israel-solidarische Impuls" sei auf "demselben falschen Boden
gewachsen" wie der israel-kritische, "nämlich dem der eigenen
deutschen, österreichischen Befindlichkeit". [34] Ähnliche
Vorwürfe, wenn auch etwas zurückhaltender formuliert, finden sich
in Zuckermanns autobiografischem Werk, in dem er ausgehend von
Erfahrungen, die er auf Veranstaltungen in Deutschland gemacht hat,
den Vertretern der zeitgenössischen Ideologiekritik vorwirft, sie
würden sich "mit einem zur puren Projektionsfläche eigener
Befindlichkeiten verkommenen 'Israel' solidarisieren". [35]
All diesen
Vorwürfen ist eines gemeinsam: Sie gehen an keiner Stelle auf die
Textproduktion der antideutschen Ideologiekritik ein. Entweder kommen
sie wie bei Zuckermann völlig ohne Literaturhinweise aus, oder sie
beziehen sich auf einzelne Sätze in Flugblättern und
Veranstaltungsankündigungen, ignorieren aber die programmatischen
Texte, die sich in mehreren Buchpublikationen und rund 15 Jahrgängen
von Zeitschriften finden. Die Autoren würden sich auch schwer tun,
Belege für ihre wortgewaltigen und mitunter wüsten Anschuldigungen
zu finden.
Die
Ignoranz gegenüber den tatsächlichen Positionen der antideutschen
Kritik soll an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden: Auch
Martin Klokes oben zitierte Behauptung, die Positionen der
Antideutschen würden sich mit den "Maximalpositionen der
israelischen Rechten" decken, wird nicht an Texten der antideutschen
Linken ausgewiesen. Das wäre auch gar nicht möglich, da sich in
diesen an keiner Stelle Ausführungen finden, die etwa eine
Vertreibung der Palästinenser aus dem Westjordanland oder eine
Ausdehnung der israelischen Staatsgrenzen bis weit in den Irak
fordern. Genau das aber sind die "Maximalpositionen der israelischen
Rechten".
|
Einmal
abgesehen von der bemerkenswerten Selbstverständlichkeit, mit der
all jene Autoren, die der Ideologiekritik in der Tradition der
Kritischen Theorie ein "Abarbeiten an einem deutschen Schuldkomplex"
unterstellen, davon ausgehen, dass es sich bei Antideutschen
ausschließlich um Nicht-Juden handelt, kann konstatiert werden, dass
in der antideutschen Textproduktion selbstanklägerische
Vergangenheits- und Identitätspolitik ebenso scharf kritisiert
werden wie philosemitische Anwandlungen. Clemens Nachtmann, Redakteur
der Zeitschrift Bahamas, hat in einem Aufsatz klargestellt, dass sich
antideutsche Kritik "jetzt und in Zukunft zuvörderst gegen
Bekennertum und Identitätspolitik" richtet. [36] Hinsichtlich der
Solidarität mit dem Staat der Überlebenden der Shoah fordert er,
diese nicht "durch irgendwelche pathetischen Bekenntnisse und
Selbststilisierungen als uneigennützige und hochherzige Freunde der
Juden" zu diskreditieren. [37] Eine so verstandene Solidarität mit
Israel resultiert ihrem Selbstverständnis nach nicht aus
Schuldreflexen, "Überidentifikation" und "Projektionen", sondern
aus einer materialistischen Gesellschaftskritik, die sich auf den
Marxschen und den Adornoschen kategorischen Imperativ bezieht.
Ausgehend von diesen lässt sich im Verständnis der antideutschen
Kritik eine Art kategorischer Imperativ für Gesellschaftskritik in
der Gegenwart formulieren: "Eine jede Staatskritik wird daran zu
messen sein, ob sie mit dem Staat Israel, jener prekären
Nothilfemaßnahme gegen die antisemitische Raserei, sich
bedingungslos solidarisch erklärt, was die Solidarität mit dessen
bewaffneter Selbstverteidigung selbstverständlich einschließt. (...)
Und jede Kritik am Kapital ist daran zu messen, ob sie, als ihr
theoretisches Zentrum, dessen negative Selbstaufhebung in manifester
Barbarei als eine wiederholbare Konstellation auf den Begriff zu
bringen vermag und zum Angelpunkt der Agitation macht." [38]
Ihrem
Selbstverständnis nach ist dies also eine Kritik, die sich für
Juden als Juden nur insofern interessiert, als sie Opfer des
Antisemitismus waren und sind. Zu ihrem "Jüdisch-Sein" - und das
grenzt sie von philosemitischen Anwandlungen deutlich ab - hat sie
ebenso wenig zu sagen wie zur jüdischen Kultur und Tradition.
Jüdische Religion interessiert sie lediglich unter dem Gesichtspunkt
einer Verwandtschaft zwischen jüdischem Messianismus und
materialistischer Kritik. [39]
Zuckermann
meint, die "doktrinäre Israel-Solidarität" ignoriere die
Widersprüchlichkeit der israelischen Gesellschaft. Diese Ignoranz
trage dazu bei, "dass die von diesen strukturellen Antinomien und
latenten Konfliktherden innerisraelisch ausgehende Bedrohung der
israelischen Gesellschaft erst gar nicht angegangen werden kann".
[40] Eine Kritik des Antizionismus kann und muss allerdings zunächst
gar nichts aussagen über die je spezifische Ausgestaltung
israelischer Politik und zionistischer Praxis. Es geht ihr auch nicht
in erster Linie um diese, sondern um die Kritik einer Ideologie, die
sich selbst für die realen Verhältnisse im Nahen Osten nicht
sonderlich interessiert. Warum sollte es die Aufgabe einer
hauptsächlich in Österreich und Deutschland artikulierten
Ideologiekritik sein, etwas zur Diskussion der von Zuckermann völlig
zu Recht als "innerisraelisch" bezeichneten Gefahren und zur
Analyse der ohne Zweifel existierenden "strukturellen Antinomien und
latenten Konfliktherde" in Israel beizutragen?
Wenn
Zuckermann konstatiert, die Protagonisten der linken Solidarität mit
Israel würden einen "Zionismus" betreiben, der "weitgehend
enthistorisiert" [41] sei, so gilt es darauf zu verweisen, dass es
der Kritik des Antizionismus nicht um den politischen Antizionismus
vor Auschwitz geht, der sich gerade als linksradikaler mit dem
Verweis auf die anstehende allgemeine Emanzipation, die auch den
Antisemitismus aus der Welt schaffen würde, noch legitimieren
konnte, sondern um den postnazistischen Antizionismus, dessen Kern es
ist, Juden und Jüdinnen, mit welcher Begründung auch immer, das
Recht auf einen eigenen Nationalstaat zu verwehren, selbst noch nach
der Shoah, nach dem Scheitern nicht nur des bürgerlichen
Gleichheitsversprechens, sondern auch der kommunistischen
Emanzipationserwartung. Selbstverständlich existieren auch bei
dieser postnazistischen Ideologie Unterschiede zwischen einem
jüdischen und innerisraelischen Antizionismus einerseits und einem
nicht-jüdischen und außerisraelischen andererseits. [42] Diese
spielen aber für die hier verhandelten Zusammenhänge keine Rolle.
Der Zionismus ist eine Notwehrmaßnahme gegen den Antisemitismus und muss
in der Realisierung der Notwehr sich auf die Verfasstheit der Welt
positiv beziehen. Er muss sich Staat und Kapitalakkumulation zu Eigen
machen, will er in einer Welt von Staaten und Kapitalakkumulation
bestehen. Kritische Theorie hingegen hält an der Möglichkeit fest,
mit der Abschaffung von Staat und Kapital, mit der allgemeinen
Emanzipation von Ausbeutung und Herrschaft, mit der Überwindung der
fetischistischen Wertverwertung auch die Notwendigkeit des Zionismus
aus der Welt zu schaffen - was erklärtermaßen das Ziel der
antideutschen Kritik ist. [43] Allein diese Tatsache führt den
Vorwurf eines "Philozionismus" ad absurdum.
Die antideutsche Kritik leitet nicht aus einem "unreflektierten
Solidaritätsaffekt mit Israel (...) eine essentialistisch grundierte
antipalästinensische beziehungsweise antimuslimische Grundhaltung"
[44] her, sondern formuliert materialistisch fundierte Kritik am
politischen Islam. Sie verweist darauf, dass es etwas Schlimmeres
gibt als den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft: ihre
barbarische Aufhebung. Für diese negative Aufhebung der bürgerlichen
Gesellschaft stehen historisch der Nationalsozialismus und der
Faschismus. Heute aber ist der jihadistische Islam zum
Hauptprotagonisten solch einer Aufhebung geworden. Bei allen
offenkundigen Unterschieden, die zwischen dem Nationalsozialismus und
der islamischen Erweckungsbewegung bestehen, kann die antideutsche
Kritik doch darauf verweisen, dass beide Ideologien für einen
ressentimentgeladenen Antikapitalismus stehen, der das vom Kapital
verursachte Elend nicht abschaffen, sondern nur anders,
"volksgemeinschaftlich" oder ummasozialistisch, [45] organisieren
möchte und die den Tod zahlreicher Menschen achselzuckend in Kauf
nehmende instrumentelle Vernunft der bürgerlichen Gesellschaft noch
durch die wahnhafte Vernichtung von Menschen um der Vernichtung
willen ergänzt. [46]
Vor diesem Hintergrund ist im Selbstverständnis der antideutschen
Ideologiekritik die Parteinahme für Israel, die nicht davon zu
abstrahieren braucht, dass staatliche Verteidigungsmaßnahmen auch zu
grauenhaften Übergriffen führen können und dass staatliches
Handeln in Israel keineswegs auf den Zweck der Verhinderung der
Vernichtung beschränkt ist, eine zwingende Konsequenz aus der Kritik
des Fetischismus kapitalakkumulierender und staatlich verwalteter
Gesellschaften: "Die radikale Entfaltung der Kritik der politischen
Ökonomie zu ihrer revolutionären Konsequenz (ist) gleichbedeutend
mit der bedingungslosen Solidarität, die wir Israel schuldig sind."
[47] Der Zionismus ist für die Ideologiekritik in der Tradition der
Kritischen Theorie zwar nicht die richtige Antwort auf den
Antisemitismus (das wäre nach wie vor die Errichtung der klassen-
und staatenlosen Weltgesellschaft, die freie Assoziation freier
Individuen, die befreite Gesellschaft, die es den Menschen
ermöglicht, ohne Angst und Zwang verschieden zu sein), aber er ist,
ganz unabhängig von seiner je konkreten Ausgestaltung in der je
unterschiedlich begründeten und zu bewertenden israelischen
Regierungspolitik, die vorläufig einzig mögliche. So gesehen ist
der Zionismus "das notwendig falsche Bewusstsein der Juden und
Jüdinnen, die das richtige Bewusstsein über ihre Verfolgung erlangt
haben". [48]
Politkitsch & Fahnenschwenken
Dennoch stellt sich das Problem, dass es insbesondere in einigen Ausläufern
der autonomen Antifa-Szene schick geworden ist, mit einer kaum mehr
theoretisch begründeten Israel-Solidarität zu kokettieren. Solches
Verhalten wird von antideutschen Gruppen allerdings scharf
kritisiert. Die antideutsche AG Antifa aus Halle schreibt
beispielsweise von einer "autonom-infantilen Begeisterung für
Wimpel, Vereinsabzeichen und Bekenntnis-Buttons", die sich "in den
absurdesten Formen an den Symbolen Israels" festmache. [49] Mit
einer impliziten Bezugnahme auf die Theorien über die Gefahren eines
Umschlags von Philo- in Antisemitismus wird klargestellt, dass man
sich über die Beschaffenheit dieser Art von Israel-Freundschaft
keine Illusionen machen sollte: "Eine Freundschaft, die vor allem
auf der Begeisterung für Politkitsch, Anhänger, bedruckte Mützchen
und Tassen, Pilgerreisen usw. basiert, kann den Gegenstand dieser
Freundschaft schnell wieder wechseln. Man kennt das aus der Kindheit,
deren Konservierung sich die autonomen Gruppen ja auf ihre Fahnen
geschrieben haben: Vor einigen Wochen konnte kein Schritt ohne den
braunen Teddy gemacht werden, jetzt liegt er unbeachtet in der Ecke,
weil sich das Bedürfnis nach Nähe, Kuscheln usw. plötzlich am
Plüschtierhasen festmacht." [50]
Die Kritik an falschen Identifikationen bedeutet jedoch nicht, dass die
antideutsche Gesellschaftskritik und ihre aus der Kritik der
politischen Ökonomie in Reflexion auf den Nationalsozialismus und
sein Fortwesen entwickelte Solidarität mit Israel ohne jede Art von
Identifikation auskäme. [51] Es geht hier um Identifizierung etwa im
Sinne von Herbert Marcuse, der geschrieben hat: "Ich kann nicht
vergessen, dass die Juden jahrhundertelang zu den Verfolgten und
Unterdrückten gehörten, dass sechs Millionen von ihnen vor nicht
allzu langer Zeit vernichtet worden sind. (...) Wenn endlich für
diese Menschen ein Bereich geschaffen wird, in dem sie vor Verfolgung
und Unterdrückung keine Angst mehr zu haben brauchen, so ist das ein
Ziel, mit dem ich mich identisch erklären muss." [52]
Inwieweit die Symbole des israelischen Staates zur kritischen Intervention in
konkreten politischen Situationen in der Bundesrepublik oder
Österreich taugen - und nur als solche können sie für eine
militante Ideologiekritik sinnvoll zum Einsatz kommen -, wird
auch von Protagonisten der antideutschen Gesellschaftskritik
kontrovers diskutiert. Die antideutsche Kritik als Ideologiekritik
verstand sich stets auch als Kritik am Gesinnungskitsch der
deutsch-jüdischen Versöhnung mit ihrem tatsächlich "klebrigen
Philosemitismus", den Elfriede Müller der antideutschen
Ideologiekritik zuschreibt. [53] Für eine solche Kritik stand von
Beginn an ein Polemiker wie Eike Geisel, der schon früh "jenes
unerträgliche Gemisch aus jugendbewegtem Begegnungskitsch und
immergleicher Beschäftigungstherapie, aus betroffenen Christen,
schwärmerischen Israel-Touristen, geduldigen Berufsjuden,
bekennenden Deutschen, eifernden Hobbyjudaisten und akribischen
Alltagshistorikern" ins Visier genommen hat. [54]
|
An den Rändern der antideutschen Kritik mag sich mittlerweile ein Milieu
herausgebildet haben, in dem Kritik tatsächlich ersetzt wird durch
Begegnungsprogramme mit israelischen Jugendlichen, den Import von
israelischem HipHop oder die Unterstützung von "Israelischen
Wochen" in den Lebensmittelabteilungen deutscher Kaufhausketten. Und
der eine oder die andere Antideutsche jüngeren Semesters sollte
sicher besser Adorno lesen als eifrig Hebräisch zu pauken. Dort
aber, wo die antideutsche Kritik nicht als letzter Schrei der linken
Gesinnungsmoden auftritt, sondern sich als Ideologiekritik in der
Tradition der Kritischen Theorie artikuliert, hat sie immer schon die
Kritik an falschen Identifizierungen, Projektionen und
philosemitischen Anwandlungen impliziert. Unreflektierter Aktivismus
und sinnentleertes Fahnenschwenken kann sich an keiner Stelle an der
antideutschen Textproduktion orientieren, sondern steht im
Widerspruch zu dieser und ihrer Kritik an Politkitsch und der
Sehnsucht nach einer Bewegung. Der Vorwurf des Philosemitismus und
Philozionismus an die Antideutschen ist jedenfalls an den Texten der
antideutschen Kritik nicht auszuweisen.
[1] Vgl.Améry, Jean: Der ehrbare Antisemitismus. Rede zur Woche der Brüderlichkeit. In: Ders.: Werke, Bd. 7 Stuttgart 2005, S. 191
[2] Vgl.Kestler, Stefan: Antisemitismus und das linksextremistische Spektrumin Deutschland nach 1945. In: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): Neuer Antisemitismus? Judenfeindschaft im politischen und im öffentlichen Diskurs. (13.August 2007), S. 44-50; Wehner, Markus: Linker Spaltpilz. In: "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", 25. Februar 2007; Simon, Anne-Catherine: Streit - "Neuer Antisemitismus". In: "Die Presse", 9. August 2006; Weinthal, Benjamin: Letter from Berlin. The anti-anti-Zionists. In: "Haaretz", 3. August 2007. In Weinthals Text wird der Vorwurf des Philosemitismus an die Antideutschen erwähnt und explizit zurückgewiesen.
[3] Vgl.beispielsweise die Textsammlung auf http://projekte.free.de/schwarze-katze/doku/ad.html, die zugleich das erschreckend niedrige Niveau dieser Kritik dokumentiert. Etwas ambitionierter findet sich der Vorwurf des "Philosemitismus" in einem Papier von antiimperialistischen Linken formuliert, das eine vulgär-materialistische Herleitung des Phänomens einer proisraelischen Linken versucht: Die AntiNationalen. Bemerkungen zu einer speziellen Form metropolitaner Politik. (3. August 2007).
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Philosemitismus (23. Juli 2007)
[5] Erdem, Isabel: Anti-deutsche Linke oder anti-linke Deutsche? Eine sachliche Betrachtung. In: "Utopie kreativ", Nr. 192, 2006, S. 938
[6] Mohr, Markus/Haunss, Sebastian: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: "Deutschland muss..." In: Hanloser, Gerhard (Hrsg.):"Sie warn die Anti-deutschesten der deutschen Linken". Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Münster 2004,S. 79
[7] Schandl, Franz: Manisch Germanisch. In: "Streifzüge", Nr. 3, 2001,S. 42
[8] Ebd., S. 45
[9] Schmid, Bernhard: Der Krieg und die Kritiker. Die Realität im Nahen Osten als Projektionsfläche für Antideutsche, Antiimperialisten, Antisemiten und andere. Münster 2006
[10] Müller, Karl: Teilnehmende Beobachtung. Editorial dertrend-onlinezeitung, Nr. 8, 2004; (3. August 2007)
[11] Misik, Robert: Und, wo stehen Sie? In: "tageszeitung", 26. Juli 2006
[12] Kurz, Robert: Die antideutsche Ideologie. Vom Antifaschismus zum Krisenimperialismus: Kritik des neuesten linksdeutschen Sektenwesensin seinen theoretischen Propheten. Münster 2003, S. 206
[13] Ebd., S. 204
[14] Ebd., S. 209
[15] Kloke, Martin: Israel - Alptraum der deutschen Linken? In: Brosch, Matthias u. a. (Hrsg.): Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung. Berlin 2007, S. 315
[16] Ebd., S. 316
[17] Müller, Elfriede: Die deutsche Linke auf Identitätssuche - Antisemitismus und Nahostkonflikt. In: Brosch, Matthias u. a.(Hrsg.): Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung. Berlin 2007, S. 406
[18] Ebd.
[19] Ebd., S. 411
[20] Vgl. Elken, Dieter: Israel und die deutsche Linke. Ein Beitrag zur Kritik der Flugschrift der Radikalen Linken. (8. August 2007)
[21] Vgl. Späti, Christina: Die schweizerische Linke und Israel. Israelbegeisterung, Antizionismus und Antisemitismus zwischen 1967 und 1991. Essen 2006, S. 36f., 329
[22] Akademikerverband Salzburg (8. August2007)
[23] Wahl, Max/Burg, J. G.: Jüdisch-deutscher Dialog zum Verhältnis der Deutschen und der Juden nach dem Zweiten Weltkrieg. o. O. 1992; (8.August 2007), S. 63
[24] Ebd., S. 34
[25] Said, Edward: Meine Begegnung mit Jean-Paul Sartre. Der Philosoph, Israel und die Araber. In: "Le Monde diplomatique", 15. September 2000; (8. August 2007)
[26] Holz, Klaus/Müller, Elfriede/Traverso, Enzo: Schuld und Erinnerung. Die Shoah, der Nahostkonflikt und die Linke. In: "Jungle World",Nr. 47, 2002; (8. August 2007). Zur Kritik an diesem Text vgl. Grigat, Stephan: Kritik des aufgeklärten Antizionismus. Über linke Ressentiments, Israel und den kategorischen Imperativ. In: Brosch, Matthias u. a.(Hrsg.): Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung. Berlin 2007, S. 392-398; Rensmann, Lars: Demokratie und Judenbild.Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2004, S. 318ff.
[27] Schroeder, Ralf u. a.: Wir Philozionisten. Leserbrief. In: "JungleWorld", Nr. 50, 2002; Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus: Jargon der Differenziertheit. Anmerkungen zu den Neuen Aufklärern Klaus Holz, Elfriede Müller und Enzo Traverso. (6. März 2005); Wolter, Udo: Projektion und Wahn. In: "Jungle World", Nr. 48, 2002; Redaktion Bahamas: Mut. Klartext. Jungle World. In: "Bahamas", Nr. 40, 2002; Pünjer, Sören: Jargon der Verblödung. (20. August 2007)
[28] Hanloser, Gerhard: Bundesrepublikanischer Linksradikalismus und Israel - Antifaschismus und Revolutionismus als Tragödie und als Farce. In: Zuckermann, Moshe (Hrsg.): Antisemitismus - Antizionismus - Israelkritik. (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII), Göttingen 2005, S. 213
[29] Bunzl, John: Spiegelbilder - Wahrnehmung und Interesse im Israel/Palästina-Konflikt. In: Zuckermann, Moshe (Hrsg.):Antisemitismus - Antizionismus - Israelkritik. (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII), Göttingen 2005, S. 281
[30] Holz, Klaus: Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft. Hamburg 2005, S.94
[31] Zuckermann, Moshe: Antisemitismus, Antizionismus, Israelkritik. Kritische Überlegungen zu geladenen Begriffen. In: Lamprecht, Gerald (Hrsg.): Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik. Graz 2007, S. 23
[32] Zuckermann, Moshe: Was heißt: Solidarität mit Israel? In: Hanloser,Gerhard (Hrsg.): "Sie warn die Anti-deutschesten der deutschen Linken." Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Münster 2004, S. 220
[33] Zuckermann,Moshe: Antisemitismus, Antizionismus, Israelkritik. Kritische Überlegungen zu geladenen Begriffen. In: Lamprecht, Gerald (Hrsg.): Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik. Graz 2007 S.24
[34] Ebd., S. 24
[35] Zuckermann, Moshe: Israel - Deutschland - Israel. Reflexionen eines Heimatlosen. Wien, 2. Aufl., 2007, S. 185
[36] Nachtmann,Clemens: Krisenbewältigung ohne Ende. Über die negative Aufhebung des Kapitals. In: Grigat, Stephan (Hrsg.): Transformation des Postnazismus. Der deutsch-österreichische Weg zum demokratischen Faschismus. Freiburg 2003 ,S. 43
[37] Ebd., S. 44
[38] Ebd., S. 45
[39] Vgl. aus antideutscher Perspektive Scheit, Gerhard: Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt. Freiburg 2004, S. 293-339. Vgl.auch Löwy, Michael: Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismusund libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft. Berlin 2002
[40] Zuckermann: Was heißt: Solidarität mit Israel? (s. Anm. 32), S. 219
[41] Zuckermann: Antisemitismus, Antizionismus, Israelkritik (s. Anm. 33),S. 24
[42] Vgl. Grigat, Stephan: Das Dilemma der israelischen Linken. Fragmentarisches über die Schwierigkeit von Staatskritik im Staatder Shoahüberlebenden. In: Bruhn, Joachim/Dahlmann,Manfred/Nachtmann, Clemens (Hrsg.): Das Einfache des Staates. Gedenkbuch für Johannes Agnoli. Freiburg, erscheint 2009.
[43] Vgl. Redaktion Bahamas: Für Israel - gegen die palästinensische Konterrevolution. In: "Bahamas", Nr. 34, 2001, S. 28; Initiative Sozialistisches Forum: Flugschriften. Gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten. Freiburg 2001, S. 4; Scheit: Suicide Attack (s.Anm. 39), S. 41f.
[44] Zuckermann: Israel - Deutschland - Israel (s. Anm. 35), S. 184
[45] Zum Begriff des Ummasozialismus vgl. Grigat, Stephan: Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus. Freiburg 2007, S. 345f.
[46] Vgl. Kunstreich, Tjark/Pankow, Horst: Vernichtung als Selbstzweck.Über einige Gemeinsamkeiten von nationalsozialistischem und islamistischem Judenhass. In: "Bahamas", Nr. 37, 2002, S. 21-24
[47] Bruhn, Joachim: Kritik, Polemik, Dampframme. Kurze Replik auf Justus Wertmüller. In: "T-34", Oktober 2003; (20. August 2007)
[48] Scheit: Suicide Attack (s. Anm. 39), S. 286
[49] AG Antifa Halle: Am Ende: Konformismus. In: bonjour tristesse. Texte für Halle und Umgebung. Nr. 2, 2007, S. 7
[50] Ebd., S. 9
[51] Vgl. Scheit, Gerhard: Mitmachen oder Dagegensein? Zum Verhältnis von Kritik und Identifikation. In: Grigat, Stephan (Hrsg.): Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus. Freiburg 2006, S. 219
[52] Marcuse, Herbert: Nachgelassene Schriften. Bd. 4: DieStudentenbewegung und ihre Folgen. Springe 2004
[53] Müller: Die deutsche Linke auf Identitätssuche (s. Anm. 17), S. 406
[54] Geisel, Eike: Die Banalität der Guten. Deutsche Seelenwanderungen. Berlin 1992, S. 18
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