Der vergessene Djihad

Wie der ORF berichtet, haben Sicherheitskräfte am Montagnachmittag vermutlich einen Anschlag auf die amerikanische Botschaft am Wiener Alsergrund verhindert. Ein Mann hatte versucht, in das Gebäude einzudringen. Nachdem die Metalldetektoren Alarm geschlagen hatten, flüchtete der Attentäter zu Fuß. Bei seiner Flucht ließ er einen Rucksack fallen, in dem sich zwei Handgranaten befanden. Dem Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung zufolge war der Rucksack zur Steigerung der Explosionswirkung mit Nägeln gefüllt. Der flüchtende Mann konnte von der Polizei festgenommen werden. Es soll sich um einen Niederösterreicher bosnischer Abstammung handeln.

Die Polizeiangaben über den Hintergrund sind bislang spärlich, entbehren aber nicht der unfreiwilligen Komik, die österreichische Polizeieinsätze ein ums andere Mal begleitet: Obwohl die Vorgangsweise des mutmaßlichen Attentäters allen Regeln islamistisch inspirierter Anschläge zu entsprechen scheint und neben den Granaten und Nägeln im Rucksack auch ein Buch gefunden wurde, auf dem „Islam“ stand, lasse sich ein möglicher islamistischer Hintergrund zurzeit nicht belegen. (Vor einigen Jahren wurde am Rande Wiens eine in mehrere Plastiksäcke verpackte, zerstückelte Leiche gefunden. Auch damals wollte die Polizei nicht vorschnell Mutmaßungen in den Raum stellen. Nur soviel war zu hören: Sie ging von einem Fremdverschulden aus.)

Mujaheddin in Bosnien

Sollte sich bestätigen, was nur allzu offensichtlich scheint, verweist dieser Vorfall auf ein Problem, das im Westen kaum zur Kenntnis genommen wird: den Effekt des Krieges in Bosnien auf die Entwicklung des internationalen Djihadismus. Von 1992 bis 1995 kämpften mehrere tausend Mujaheddin auf Seiten der bosnisch-muslimischen Truppen gegen die ungläubigen serbischen und kroatischen Feinde. Unter ihnen befanden sich kampferprobte Veteranen des Afghanistankrieges, die es auf der Suche nach neuen Schauplätzen für ihren Djihad im Dienste Allahs auf den Balkan verschlagen hatte – darunter Khalid Scheich Mohammed, der Planer der Anschläge vom 11. September, und Osama bin Laden, der hartnäckigen Gerüchten zufolge einige Zeit mit einem in Österreich ausgestellten bosnischen Reisepass unterwegs war. Der Krieg in Bosnien besaß für das gerade im Aufbau befindliche Netzwerk Bin Ladens einen unschätzbaren Vorteil. Anders als das vergleichsweise entlegene Afghanistan wurde das auseinanderbrechende Jugoslawien als Tor nach Europa betrachtet und bot den Islamisten die Möglichkeit, den Kampf direkt an die Grenzen des verhassten Westens zu verlagern, muslimische Mitstreiter aus Westeuropa zu rekrutieren und diese in den Ausbildungslagern der Mujaheddin-Brigade in Zentralbosnien in all jenen Fertigkeiten zu unterweisen, die für zukünftige Terrorkampagnen nützlich sein konnten. In diesem Sinne wurde auch die Propagandamaschinerie der al-Qaida auf eine neue Stufe gehoben: Der eineinhalbstündige Film über die „Märtyrer in Bosnien“ war das erste in englischer Sprache produzierte Video, das über die mittlerweile aus dem Netz genommene Homepage www.azzam.com (benannt nach Abdullah Azzam, dem Mentor Bin Ladens) vertrieben wurde.

Im Daytonabkommen, das den Krieg 1995 beendete, wurde auf Druck der USA festgehalten, dass alle „ausländischen Kämpfer“ Bosnien zu verlassen haben. Die Mehrheit der Mujaheddin folgte dieser Forderung und begab sich an neue Kriegsschauplätze (nach Tschetschenien oder in den Kosovo). Doch mehrere hundert Kämpfer blieben in Bosnien. Sie bekamen die bosnische Staatsbürgerschaft verliehen, waren daher keine „ausländischen Kämpfer“ mehr und konnten sich im Land niederlassen (meist in der Gegend um Zenica, dem ehemaligen Hauptquartier der Mujaheddin-Brigade), ohne den Buchstaben des Daytonvertrages allzu offenkundig zu widersprechen. Über Jahre hinweg konnten sie völlig ungehindert agieren und an der Verbreitung ihrer Ideologie arbeiten, so etwa über die von ehemaligen Mujaheddin 1995 gegründeten Jugendorganisation Aktivna Islamska Omladina und deren hetzerische Zeitschrift Saff. Im Zusammenhang mit islamistischen Anschlägen in den neunziger Jahren führten die Spuren oftmals nach Bosnien. Die von den naturalisierten Djihadisten ausgehende Gefahr war Geheimdiensten zwar bewusst, doch unternahm die bosnische Regierung lange Zeit wenig bis nichts, um deren Aktivitäten zu kontrollieren. Zu Beginn des Krieges, so die Argumentation, seien die Islamisten die einzigen gewesen, die den bosnischen Muslimen zur Hilfe gekommen waren und verdienten daher Dankbarkeit.

Erst nach dem 11. September 2001 unternahm die Regierung ernsthafte Schritte, um den Spielraum der Djihadisten einzuschränken. Einzelne naturalisierte Araber wurden des Landes verwiesen und etliche islamische „Wohltätigkeitsorganisationen“ unter dem Vorwurf der Terrorismusfinanzierung verboten. (In Bosnien operieren insgesamt mehr als 250 islamische „humanitäre“ Hilfsorganisationen aus dem Nahen Osten und Europa.) Die Patterns of Global Terrorismus des amerikanischen Außenministeriums waren in den Jahren nach 9/11, trotz gelegentlich geäußerter Kritik, voll des Lobes über die Zusammenarbeit mit Bosnien im Kampf gegen den Terrorismus.

Im Oktober 2005 wurde jedoch deutlich, dass dem Kampf gegen islamistische Terroristen weiterhin höchste Dringlichkeit zukommen muss. Im Zuge einer Polizeirazzia in einem Vorort von Sarajewo wurden zwei junge Männer unter Terrorismusverdacht festgenommen, drei weitere Festnahmen erfolgten kurz danach. Die Durchsuchung der Wohnung brachte beunruhigende Funde zu Tage: Neben einer Vielzahl von Schusswaffen samt dazugehöriger Munition und über 30 Kilo Sprengstoff wurde ein einsatzbereiter Sprengstoffgürtel sowie ein Abschiedsvideo gefunden, in dem maskierte Männer Allah um Vergebung für die Tat baten, die zu begehen sie im Begriff waren. Im Zuge der folgenden Ermittlungen wurde klar, dass die Sicherheitsbehörden eine Terrorzelle aufgedeckt hatten, die keineswegs nur auf Bosnien beschränkt war. Bei dem Hauptverdächtigen handelte es sich um einen Schweden bosnischer Herkunft, ein zweiter Festgenommener besaß die türkische Staatsbürgerschaft und hatte zuvor in Dänemark gelebt; in Dänemark und Großbritannien kam es zur Verhaftung weiterer Verdächtiger, die mit der in Sarajewo aufgeflogenen Terrorzelle in Kontakt standen. Die International Herald Tribune berichtete im November 2005: „Diplomats and international officials close to the investigation describe it as a series of overlapping networks, in which young Muslims from Scandinavia have been recruited as possible suicide bombers and sent to Bosnia. Government officials here say the group in Bosnia used the former Yugoslav state as a staging ground for attacks elsewhere in Europe.”

Die Hauptverdächtigen der Zelle in Sarajewo wurden wegen der Vorbereitung von terroristischen Anschlägen gegen westliche Einrichtungen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Die bosnischen Behörden nahmen den Fall zum Anlass, endlich einer Forderung nachzukommen, die von den USA seit Jahren erhoben wurde. Im Januar 2006 wurde eine Kommission ins Leben gerufen, deren Aufgabe die Überprüfung der rund 1500 Staatsbürgerschaftsvergaben an ausländische Mujaheddin seit 1995 war. Seitdem wurden ca. 400 Staatsbürgerschaften widerrufen und 48 Betroffene aufgefordert, das Land zu verlassen. Allerdings haben die Behörden bislang keine Schritte unternommen, um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen.

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