Funktionaler Analphabetismus oder Mangel an Urteilskraft?

Unter Analphabetismus versteht man, folgt man der Definition von Wikipedia, “kulturell, bildungs- oder psychisch bedingte individuelle Defizite im Lesen und/oder Schreiben bis hin zu völligem Unvermögen in diesen Disziplinen.” Die Forschung unterscheidet zwischen verschiedenen Ausprägungen dieses Phänomens. Während man von primärem Analphabetismus spricht, wenn jemand die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens nie gelernt hat, handelt es sich bei funktionalen Analphabeten um “Menschen, die zwar Buchstaben erkennen und durchaus in der Lage sind, ihren Namen und ein paar Worte zu schreiben, die jedoch den Sinn eines etwas längeren Textes entweder gar nicht verstehen oder nicht schnell und mühelos genug verstehen (können), um praktischen Nutzen davon zu haben.” Der Unterschied ist einer ums Ganze, zumal was die Chancen betrifft, auf dem Arbeitsmarkt zu reussieren. Wer des Lesens und Schreibens nicht mächtig ist, wird wohl oder übel gezwungen sein, sich mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser zu halten. Die Karrierechancen funktionaler Analphabeten sehen dagegen viel rosiger aus, wie die aktuelle Diskussion über den letzten Montag veröffentlichten National Intelligence Estimate (NIE) eindrücklich unter Beweis stellt.

Wenn etwa Jörg Lau in der Zeit behauptet, die amerikanischen Geheimdienste seien davon überzeugt, dass der Iran bereits im Jahr 2003 sein Atomwaffenprogramm eingestellt habe und diese Sichtweise dem eben erwähnten NIE entnimmt; wenn er weiters behauptet, “dass es kein iranisches Atomwaffenprogramm (mehr) gebe, und zwar schon seit vier Jahren”, dann wird klar, dass funktionale Analphabeten nicht dazu verurteilt sein müssen, ihr Leben als ungelernte Hilfsarbeiter zu fristen – sie können es immerhin schaffen, ihr Geld als Leitartikelschreiber renommierter Wochenzeitungen zu verdienen.

Denn was auch immer man von dem jüngsten Report der amerikanischen intelligence community halten mag, die Behauptungen Laus finden darin keine Bestätigung. Im NIE wird zwar behauptet, “that in fall 2003, Tehran haltet its nuclear weapons program”, doch das heißt noch lange nicht, das iranische Regime habe seine Arbeit an der Bombe eingestellt. Denn in einer Fußnote erläutern die Verfasser des Reports, was sie unter dem Begriff “nuclears weapons program” verstehen: “we mean Irans’s nuclear weapons design and weaponization work and covert uranium conversion-related and uranium enrichment-related work”. Die Arbeit am letzten Schritt des Entwicklungsprozess, am Design des tatsächlichen Zusammenbaus der Bombe (“weaponization”) wurde demnach 2003 eingestellt. Doch dies ist nicht der entscheidende, sprich technisch am schwierigsten zu meisternde Punkt des gesammten Programms. Dass diese Arbeit aufgrund internationalen Drucks eingstellt worden sei, wie der NIE behauptet, ist übrigens sehr unwahrscheinlich: Im Herbst 2003 konnte von nennenswertem internationalen Druck keine Rede sein. Eine Möglichkeit wäre, dass die Arbeit eingestellt wurde, weil diese technischen Fertigkeiten in Pakistan oder Nordkorea “eingekauft” werden konnten und daher gar nicht mehr nötig waren; diesen Weg hat zumindest Libyen beschritten, bevor Gadaffi zur Überraschung aller (inklusive der amerikanischen Geheimdienste) die Einstellung des libyschen Atomwaffenprogramms verkündete, von dessen Existenz bis dato niemand wusste.

Der viel schwieriger zu meisternde Teil der Produktion von Atombomben besteht in der Herstellung eines qualitativ ausreichenden, spaltbaren Materials. Dem NIE ist diesbezüglich zu entnehmen, was ohnehin jeder weiss: Dass der Iran weiter mit Hochdruck daran arbeitet, hoch angereichertes Uran herzustellen – Material also, das nach Ansicht aller Experten für die zivile Nutzung von Nukleartechnologie völlig überflüssig wäre und dessen angestrebte Produktion ein eindeutiger Hinweis darauf ist, was damit in Wahrheit unternommen werden soll. Über mehr als zehn Jahre arbeitete der Iran im Geheimen an diesem Forschungsprogramm. Da die iranische Urananreicherung aber mittlerweile vor den Augen der Weltöffentlichkeit durchgeführt wird, bedarf es auch keiner “covert uranium conversion-related and uranium enrichment-related work” mehr.

Interessant ist darüber hinaus, dass die amerikanischen Geheimdienste zwar mit “high confidence” vom Stopp eines bestimmten Aspekts des iranischen Atomwaffenprogramms sprechen, allerdings nur mit geringerer Sicherheit (nur “moderate-to-high confidence”) sagen können, dass der Iran nicht bereits über Atomwaffen verfügt.

Dies und vieles mehr ist dem NIE zu entnehmen, sofern man sich einerseits die Mühe macht, ihn auch tatsächlich zu lesen, und andererseits zu sinnerfassendem Lesen überhaupt in der Lage ist. Jörg Lau und den Seinen im Geiste mangelt es nun an einer dieser beiden Voraussetzungen, oder aber es liegt jenes noch viel ernstere Gebrechen vor, das der große Immanuel Kant als “Mangel an Urteilskraft” bezeichnet hat. Unter Urteilskraft verstand er “das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel … stehe, oder nicht.” Ein Mangel an solcher Urteilskraft, so ist einer Fußnote der Kritik der reinen Vernunft zu entnehmen, “ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.”

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