Land ohne Volk, Volk ohne Land

Sobald Antizionisten zu belegen versuchen, dass der Zionismus von Anbeginn an nichts als eine verbrecherische, rassistische Ideologie war, wird ein Slogan aus der historischen Mottenkiste geholt: „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ sei die Parole der Zionisten gewesen. Damit sei die Ursünde des Zionismus belegt: Die Gründung eines jüdischen Staates sei stets mit der Vertreibung der arabischen Bevölkerung verbunden gewesen. Im Middle East Quarterly hat sich Diana Muir auf die Suche nach Herkunft und Bedeutung des inkriminierten Satzes gemacht und weist in ihrem lesenswerten Beitrag nach, dass auch in diesem Fall die antizionistische Propaganda mit der historischen Realität nichts zu tun hat.

Die Formulierung vom „Land ohne Volk“ wurde zum ersten Mal 1834 von einem Priester der Church of Scotland verwendet, der, wie viele der heutigen Evangelikalen, davon überzeugt war, dass es die Aufgabe der Christen sei, die biblische Prophezeiung von der Rückkehr der Juden ins „Heilige Land“ zu verwirklichen. „By the late nineteenth century, the phrase was in common use in both Great Britain and the United States among Christians interested in returning a Jewish population to Palestine.” (Zum Einfluss dieser Vorstellung auf die amerikanische Politik verweise ich auf die großartige Studie „Power, Faith and Fantasy“ von Michael B. Oren, der in Kürze Wien mit seinem Besuch beehren wird.)

Erst im Jahr 1901, fast 70 Jahre nach seiner ersten Verwendung, wurde die Formulierung vom „Land ohne Volk“ zum ersten Mal von einem zionistischen Autor, Israel Zangwill, aufgegriffen. Bei Theodor Herzl, dem häufig die Urheberschaft unterstellt wird, findet sie sich nicht, weder in seinem bekanntesten Text Der Judenstaat, noch in seinen anderen Büchern, Briefen oder Tagebüchern. Ebenso falsch ist die Behauptung, die Parole habe in der zionistischen Bewegung jemals eine große Rolle gespielt. „(I)t is not evident that this was ever the slogan of any Zionist organization or that it was employed by any of the movement’s leading figures. A mere handful of the outpouring of pre-state Zionist articles and books use it. For a phrase that is so widely ascribed to Zionist leaders, it is remarkably hard to find in the historical record.” Muir resümmiert daher: “Unless or until evidence comes to light of its wide use by Zionist publications and organizations, the assertion that ‘a land without a people for a people without a land’ was a ‘widely-propagated Zionist slogan’ should be retired.”

Auf einer beliebig herausgegriffenen pro-palästinensischen Webseite ist zu lesen: „Es (Palästina) war also kein menschenleeres Gebiet, wie die Zionisten mit ihrer Lüge ‚Land ohne Volk für ein Volk ohne Land’ behaupteten! Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache und zeigen, dass diese Behauptung der Zionisten nicht anderes als eine wahre Lüge ist.“ Wenn schon die Behauptung falsch ist, „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ sei eine zentrale Parole des Zionismus gewesen, stimmt dann wenigstens die Bedeutung, die ihr, wie in dem angeführten Beispiel, zugeschrieben wird? Gingen die Zionisten in ihrer Missachtung der arabischen Bevölkerung tatsächlich davon aus, Palästina sei menschenleer gewesen?

Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in der Doppelbedeutung, die das Wort „Volk“ (ebenso wie das englische Wort „people“) besitzt. Es kann einerseits mit einer politischen Bedeutung versehen werden und als synonym für „Nation“ Verwendung finden. Andererseits kann unter „Volk“ aber auch schlicht die „Bevölkerung“, eines bestimmten Gebietes etwa, verstanden werden. Dieser Doppelbedeutung bedient sich die antizionistische Propaganda, wenn sie den Zionisten unterstellt, sie hätten Palästina als ein „Land ohne Bevölkerung“ gesehen. Das oben zitierte Bespiel zeigt das deutlich: Palästina war „kein menschenleeres Gebiet“.

Dies ist freilich nicht die Bedeutung, die der Slogan im 19. Jahrhundert besaß. Unter dem Eindruck des überall in Europa erwachenden Nationalismus setzte sich die Vorstellung einer erstrebenswerten Kongruenz von Land und Volk (im Sinne von Nation) durch. Muir zitiert aus einem offenen Brief, den William Blackstone an den amerikanischen Präsidenten Benjamin Harrison geschrieben hat: „Why shall not the powers which under the treaty of Berlin, in 1878, gave Bulgaria to the Bulgarians and Servia to the Servians now give Palestine back to the Jews? … These provinces, as well as Roumania, Montenegro, and Greece, were wrested from the Turks and given to their natural owners. Does not Palestine as rightfully belong to the Jews?”

Ein eigenständiger palästinensischer Nationalismus entstand erst als Reaktion auf die jüdische Einwanderung nach Palästina. Zuvor betrachteten sich die dort lebenden Araber als Untertanen des Osmanischen Reiches und Palästina wurde als südlicher Teil Syriens gesehen. Die Vorstellung eines distinkten nationalen Charakters Palästinas war der dort lebenden arabischen Bevölkerung völlig fremd. Anders sah dies westlicher Sichtweise zufolge aus. Hier war das „Heilige Land“ ein gängiger Begriff. Die Auflösung des Rätsels ist also nicht schwer: “Nineteenth-century Westerners associated peoples or nations with territory, and so to be a land without a people did not imply that the land was without people, only that it was without a national political character.” Dies ist die Bedeutung der Formulierung vom “Land ohne Volk”, und sie beinhaltete keineswegs die angestrebte “ethnische Säuberung” Palästinas, wie die antizionistische Propaganda immer behauptet: “Advocates of a Jewish return to Israel, when they thought about the Arab inhabitants at all, assumed the existing Arab population would continue in residence after a Jewish state was established. This outcome appeared workable since all nation-states include ethnic minorities among their citizens.”

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