Staatliche Mengenlehre notorischer Nervensägen

“Wenn es um Analysen des Nahen Ostens geht, leben wir in einem Zeitalter der Idiotie”, beklagte sich unlängst Barry Rubin. Er, der die mediale Berichterstattung über diese Region seit über dreißig Jahren verfolgt, habe noch nie so viel Nonsens gelesen, wie im vergangenen Monat: “The problem arises from ignorance, lack of understanding of the region by those presented as experts; plus arrogance, treating the region and the lives of people as a game (Hey, let’s try this and see what happens!), fostered by the failure of such control mechanisms as a balanced debate and editing that rejects simplistic bias or stupidity; as well as a simple lack of logic.” Wer das für ein zu hartes Urteil hält, der sollte einmal einen Blick ins dieswöchige profil werfen und sich den Artikel “Es war einmal die Zweistaatenidee” zu Gemüte führen.

Darin darf sich nämlich Robert Treichler über den aktuellen Stand des Nahostkonflikts auslassen. Ausgangspunkt seines Artikels ist die “ausgezeichnete Zusammenarbeit” israelischer und palästinensischer Sicherheitskräfte im Westjordanland, die in der letzten Zeit “unbemerkt von der Weltöffentlichkeit Gewalt verhindert, wo sie früher von allen Beteiligten geschürt worden war.” Steht damit möglicherweise eine Lösung des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern bevor, diesen “notorischen Nervensägen der Weltpolitik”, so die Frage Treichlers, einer jener notorischen Nervensägen, die in der Außenpolitikabteilung des profil ihr Geld verdienen. Nein, lautet die wenig überraschende Antwort, deren Begründung allerdings verblüffend ist: “Grausame Attentate erzeugen Druck, ein De-facto-Waffenstillstand nicht.” Dient die oftmals bemühte “Gewaltspirale” normalerweise dazu, das Stocken oder Scheitern von Friedensbemühungen zu erklären, so kommt Treichler zu folgendem originellen Schluss: “Die Gewaltspirale im Nahen Osten dreht sich nicht. Ein schlechtes Zeichen für eine Lösung des Nahostkonflikts.” Man beachte den atemberaubenden Zynismus dieser Behauptung – so einfach und ganz am Frieden interessiert kann man sich Blutvergießen eben auch herbeiwünschen.

Wer schuld daran ist, dass es im Augenblick keinerlei Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien gibt, ist nicht schwer zu erraten: “Israels Regierung … ist seit bald einem Jahr im Amt, ohne dass sie bisher ein Friedensangebot auch nur skizzieren hätte müssen. Es gibt keine Gespräche mit den Palästinensern und schon gar keinen internationalen Gipfel.” Dass Premierminister Netanjahu seit seinem Amtsantritt die Führung der Palästinenser im Westjordanland unzählige Male öffentlich dazu aufgefordert hat, in direkte Verhandlungen über eine Friedenslösung einzutreten, kümmert Treichler wenig; dass es die Palästinenser unter Mahmoud Abbas sind, die sich konsequent weigern, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, den sie selbst verlassen haben, darüber verliert er kein Wort.

Derartige Details sind freilich nicht besonders wichtig, wenn man einmal beschlossen hat, die tatsächliche Geschichte durch ein recht willkürliches Zerrbild zu ersetzen. “Es hatte Jahrzehnte gedauert, ehe die Idee eines Staates Palästina neben dem Staat Israel international Anerkennung fand.” Hier haben wir ein Beispiel der von Rubin angesprochenen Ignoranz: Ging der Gründung Israels nicht der Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen voran, der sich für die Etablierung eines jüdischen und eines arabischen Staates aussprach? Genoss die Idee der Gründung zweier Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen britischen Mandatsgebietes Palästina daher nicht schon am 29. November 1947 die “Anerkennung” der internationalen Gemeinschaft? Und warum ist es dazu nicht gekommen? Waren es nicht die Araber, inklusive der Palästinenser, die gegen den Teilungsbeschluss buchstäblich und mehr als ein Mal in den Krieg zogen?

Die banale Wahrheit, die man im profil jedoch mit Sicherheit nicht finden wird, lautet, dass es nicht mangelnder internationaler Anerkennung geschuldet ist, dass nach wie vor kein palästinensischer Staat existiert. Das haben sich die Araber, inklusive der Palästinenser, schon selbst zuzuschreiben. Es lag nicht an den Israelis, dass bis 1967 kein palästinensischer Staat in der Westbank und dem Gazastreifen entstand – das hätten sie auch gar nicht verhindern können. Und ebenso wenig lag es an Israel, dass der palästinensische Nationalismus in Form der “palästinensischen Befreiungsbewegung” die Idee der Gründung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels nicht als erstrebenswertes Ziel, sondern schlicht als Verrat an der nationalen Sache betrachtete. Ihr ging es nicht um einen eigenen Staat, sondern darum, den “Zionismus in Palästina auszutilgen”, wie in Artikel 15 der palästinensischen Nationalcharta nachzulesen ist. Die Probe aufs Exempel kam mit dem Oslo-Friedensprozess, an dessen Ende Arafat eine Entscheidung zwischen Krieg und Frieden treffen musste. Wie er sich entschied, dürfte hinlänglich bekannt sein.

Doch heute, so befürchtet Treichler, sei eine Zweistaatenlösung zur Beendigung des Konflikts nicht mehr realistisch. Schuld daran sei, laut Treichlers Kronzeugen Sari Nusseibeh, der israelische Siedlungsbau, der einen palästinensischen Staat unmöglich mache. “Sollte Sari Nusseibeh Recht behalten, bleibt anstelle zweier Staaten ein einziger, nämlich Israel. Würden das Westjordanland und Gaza endgültig von Israel annektiert, hätte allerdings der jüdische Staat schon bald eine arabische Mehrheit.” Das mag sein, aber will Treichler seinen Lesern wirklich weismachen, in Israel würde heute ernsthaft darüber diskutiert, die palästinensischen Gebiete zu annektieren?

Die “Einstaatenlösung” präsentiert Treichler in zwei Varianten. Einmal in der Version Tony Judts, der an Israels Stelle einen bi-nationalen Staat sehen will. Ich muss gestehen, dass ich diesen Vorschlag noch nie verstanden habe. Wenn es schon nicht möglich sein soll, dass zwei Staaten, ein israelischer und ein palästinensischer, Seite an Seite in Frieden existieren, wieso soll die Lösung des Problems dann ausgerechnet darin bestehen, die beiden Gruppen in einem gemeinsamen Staat zusammenzuführen? (Lang vor Judt forderte schon Noam Chomsky eine derartige Einstaatenlösung. Die Länder, auf die er sich immer als leuchtende Beispiele berief, waren Jugoslawien und der Libanon …) Hier haben wir es meiner Ansicht nach mit der von Rubin beschriebenen Arroganz zu tun, die die Region und ihre Menschen als Teil eines Spiels betrachtet – “Hey, let’s try this and see what happens!”

Die zweite von Treichler beschriebene Variante, ein “Groß-Israel”, in dem die Palästinenser “Bürger dritter Klasse” wären, erfreut zumindest die Herzen der europäischen Israelfeinde: Die “Einstaatentheorie würde Israel endgültig als Apartheid-Staat entlarven.” Jetzt hat er es also noch angebracht, das A-Wort, das heutzutage fast schon zum guten Ton gehört, wenn es um Israel und die Palästinenser geht – ungeachtet der Tatsache, dass der, der es verwendet, damit nur deutlich macht, dass er weder vom israelisch-palästinensischen Konflikt noch von Apartheid auch nur die leiseste Ahnung hat.

Bezeichnend an Treichlers Artikel ist, was darin fehlt. Die Zweistaatentheorie mag tatsächlich nicht mehr aktuell sein, dies aber aus Gründen, die nicht einmal erwähnt werden und die mit Israel nur am Rande zu tun haben: Spätestens seit dem Putsch der Hamas im Gazastreifen 2007 müsste eigentlich jedem klar sein, wie unüberbrückbar die Gräben zwischen den verschiedenen palästinensischen Fraktionen sind. Der Gazastreifen und das Westjordanland sind, zumindest solange die Hamas nicht auch noch in letzterem die Macht erobern kann, seit Jahrzehnten keineswegs nur geografisch getrennte Gebiete. (Auf diesen Punkt macht insbesondere Jonathan Schanzer in seinem lesenswerten Buch “Hamas vs. Fatah: The Struggle for Palestine” aufmerksam.) Seit dem arabischen Aufstand 1936 kommt es im Zuge innerpalästinensischer Auseinandersetzungen regelmäßig zu massiven Gewaltausbrüchen. Doch ein toter Palästinenser ist für westliche Medien in der Regel nur von Interesse, wenn er von einem Israeli getötet wurde. Deshalb fällt auch kaum jemanden auf, wie absurd es ist, heute von einem zukünftigen Palästinenserstaat aus Westbank und Gazastreifen zu sprechen, obwohl das Blutbad abzusehen ist, das in einem solchen Fall angerichtet würde. Was soll’s: “Hey, let’s try this and see what happens!”

Wer tatsächlich an der Geschichte und Aktualität der Ein-, Zwei- oder Wieviel-auch-immer-Staatenlösungsvorstellungen interessiert ist, dem sei das diesbezügliche Buch von Benny Morris, “One State, Two States: Resolving the Israel/Palestine Conflict”, ans Herz gelegt. Was Treichlers Artikel betrifft, werde ich wieder an Barry Rubins Analyse des Elends der Nahostberichterstattung erinnert: “To put it another way, I am reading material that simultaneously has no connection with the real world, is full of internal contradictions, and often seems deliberately tailored to misrepresent events in order to prove a false thesis.”

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