Ende der 1980er Jahre schickte Deutschland sich an, durch die Wiedervereinigung die
letzten Reste seiner seit dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Souveränitätsbeschränkungen
abzuschütteln. Damals besann sich ein zahlenmäßig noch relevanter Teil der Linken auf einen
Ausspruch von Marlene Dietrich. Auf die Frage, ob sie in das Land von Massenmord und
Vernichtungskrieg zurückkehren werde, soll die Sängerin und Schauspielerin während einer
Tour für US-Soldaten geantwortet haben: "Deutschland? Nie wieder!" Unter diesem Motto fand
1990 in Frankfurt mit rund 20.000 Teilnehmern eine der wenigen Großdemonstrationen gegen
die Wiedervereinigung statt. Getragen wurde sie von einem reichlich heterogenen Haufen: von
maostalinistischen Kleingruppen und DDR-nostalgischen Sozialisten über Teile der Grünen,
linke Gewerkschafter und autonome Haudraufs, bis hin zu jenen Zirkeln, aus denen in den
folgenden 20 Jahren eine Gesellschaftskritik formuliert werden sollte, die sich mit Bezug auf die
Kritische Theorie Adornos bei der Restlinken nachhaltig unbeliebt machen sollte.
Jan Gerber vom Leipziger Simon-Dubnow-Institut hat nun in einer akribisch recherchierten
Studie die Geschichte der deutschen Linken und die Herausbildung einer "antideutschen
Strömung" als eigenständigen gesellschaftskritischen Pol aufgeschrieben. Als Folie dient
ihm der Bruch, den der Untergang des autoritären Staatssozialismus keineswegs nur für
die Honecker- und Breschnew-Fans, sondern für die gesamte Linke bedeutete. Vor dem
Hintergrund der Metamorphosen, welche die radikale Linke in den Jahrzehnten nach dem
Zweiten Weltkrieg durchgemacht hat, stehen die organisatorischen Ausdifferenzierungen und die
Auseinandersetzungen im Zentrum, die vor 20 Jahren in der deutschen Linken geführt wurden: |
zunächst anlässlich der Wiedervereinigung und des Zusammenbruchs des Ostblocks, dann
insbesondere angesichts des Golfkriegs 1991 und der Bedrohung Israels mit irakischen Scud-
Raketen.
Zu Recht weist Gerber darauf hin, dass kaum eine linke Gruppierung in den letzten Jahren
von erbittert geführten Auseinandersetzungen über die Bedeutung des Zionismus, die Rolle
der USA und die Einschätzung von regressiven Formen der Kapitalismuskritik verschont
geblieben ist, einschließlich der Jugendorganisationen der Grünen und der Sozialdemokratie.
Wer die Hintergründe dieser Debatten verstehen möchte, ist mit Gerbers Studie bestens bedient,
in der überzeugend erklärt wird, aus welchen Quellen sich das mehrheitslinke Ressentiment
gegenüber dem jüdischen Staat einerseits und die Parteinahme linker Staatskritiker für die
Selbstverteidigung Israels andererseits speist.
Doch es geht keineswegs allein um die Linke in Deutschland. Gerber stellt sein Thema in
den historischen Kontext eines "Weltbürgerkrieges" zwischen Freiheit und Gleichheit, der im
kurzen 20. Jahrhundert von der Oktoberrevolution bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion
die Auseinandersetzungen in und um die Linke geprägt habe. Er liefert eine präzise Darstellung
jenes "antiimperialistischen Weltbildes" mit seinen aus der Dritten Welt geborgten Identitäten,
das über Jahrzehnte hinweg für fast alle Fraktionen der Linken charakteristisch war. Gerber
kritisiert diese antiimperialistische Weltsicht, ohne die gravierenden Unterschiede zwischen dem
Antiimperialismus eines Schlächters wie Saddam Hussein auf der einen und jenem eines Ho Chi
Minh auf der anderen Seite zu verwischen.
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Die Ignoranz gegenüber dem volksgemeinschaftlichen Vernichtungsantisemitismus des
Nationalsozialismus, auf den schon deswegen nicht reflektiert werden durfte, um auch in den
postnazistischen Staaten am Proletariat als revolutionärem Subjekt festhalten zu können, wird
ebenso analysiert wie die Grundlagen jenes zum Dogma erstarrten "Nie wieder Krieg" , das bei
fast jeder größeren Auseinandersetzung innerhalb der Linken mit dem Postulat "Nie wieder
Auschwitz" in Konflikt geriet. Gerber formuliert eine Kritik am traditionellen Antifaschismus,
der im "paradoxen Versuch" mündete, "den historischen Nationalsozialismus der dreißiger Jahre
in den neunziger Jahren mit den Mitteln und der Ästhetik der zwanziger Jahre zu bekämpfen."
Trotz seiner nüchternen Sprache ist der Band mehr als eine distanzierte Darstellung historischer
Fakten: Er beinhaltet eine Kritik an einer Linken, die das Individuum immer wieder dem
repressiven Kollektiv geopfert hat und hält ein Plädoyer für eine "Synthese von Freiheit und
Gleichheit auf kapitalismuskritischer Grundlage." Publiziert wurde das Ganze von einem Verlag,
der sich genau das zum Programm gemacht hat.
Jan Gerber: Nie wieder Deutschland? Die Linke im Zusammenbruch des "realen Sozialismus", Freiburg:
ça ira 2010, 350 Seiten, 20,- Euro
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