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Gesichtspunkt Auschwitz

von Gerhard Scheit

(konkret 12/2001)

 
"Der Vernichtungswahn der heutigen Selbstmordattentäter ist die Säkularisierung der islamischen Religion unter dem Gesichtspunkt von Auschwitz." Joachim Rohloff meinte zu diesem Satz aus meinem Artikel "Das Böse ist nicht das Böse" (Jungle World vom 2. 10. 01): "Ein schöner Satz. Ob er auch etwas bedeutet?" Ich will versuchen, ihm das ein bißchen zu erklären.
Es setzen sich immer deutlicher zwei Tendenzen durch, die islamistischen Selbstmordanschläge zu rationalisieren: Die eine besteht darin, als Motiv einen allgemeinen, identischen "Irrsinn" zu unterstellen, der dem kapitalistischen System genau entspreche bzw. daraus entspringe, daß es keine (staats)sozialistische Perspektive mehr gebe. Die andere ist darauf orientiert, einen absoluten Gegensatz zwischen Islam und Zivilisation zu behaupten - und zwar im Sinne einer, wie auch immer begründeten, notwendigen Parteinahme für die Aufklärung und gegen die Religion.
Die einen meinen, die Globalisierung sei jüngeren Datums und habe mit der Welt von Auschwitz nichts mehr zu tun. Und die anderen wollen nicht sehen, daß die fundamentale Trennung von Zivilisation und Barbarei ihrerseits auf einer konsequenten Abstraktion beruht: davon nämlich, daß nach Auschwitz nicht nur Kultur ganz allgemein, sondern jede Religion im besonderen ihren Charakter gewandelt hat, nicht mehr sein kann, was sie war.
Auf der einen Seite wird negative Dialektik gegen eine leere Tautologie ausgetauscht: Von der Erkenntnis, daß die One World des Kapitals den Terror hervorbringt, flüchtet man in den erkenntnistheoretischen Wahn, selbst außerhalb der One World zu sein. Wer sich außerhalb dessen glaubt, was er erkennen kann, dem wird auch alles eins, was ihm als Gegenstand erscheint: A=A, Aufklärung=Religion, Kant=Khomeini. Und der postaufklärerische Antikapitalist glaubt weder an Gott, noch will er Kant begreifen. Er fühlt sich selbst als Souverän, im Besitz der heiligen Theorie - sei's die vom Klassenkampf oder jene von der Parusie der Krise.
Auf der anderen Seite wird ein manichäisches Gegenüber von Zivilisation und Barbarei, Aufklärung und Mittelalter gesetzt, um sich für die Zivilisation ins Zeug zu legen. Daß diese Zivilisation des Kapitals die Barbarei stets neu hervortreibt, davon will man hier gewöhnlich nichts wissen. Und wer als Unterschied zwischen Aufklärung und Barbarei allein ein "Glücksversprechen" fixiert, das die Aufklärung auszeichne, begreift noch nicht die Einheit des Widerspruchs. Auch die Religion - "Seufzer der bedrängten Kreatur" - enthält ja ein Glücksversprechen, nicht zuletzt die muslimische.
Aber - und hier liegt das Wahrheitsmoment in der Unterscheidung von Aufklärung und Religion - sie enthält es in einer anderen Form. Das Jenseits, zu dem die Religion das Glücksversprechen macht, setzt tendenziell das mögliche Glück hier und jetzt außer Kraft und wird zum Motiv des Unglücks. Die falsche Verweltlichung, die vorgetäuschte Revolution, läßt davon nur die Form übrig: Aufhebung des Irdischen ohne Transzendenz. Das ist das Verhältnis, in dem der Nationalsozialismus zum Christentum stand; und auf ähnliche Weise dürfte sich die islamistische Ideologie, der sogenannte Fundamentalismus, zu den islamischen Traditionen verhalten.
Versteht man unter Säkularisierung die Verstaatlichung dessen, was ursprünglich zur religiösen Macht gehört, so ist der islamistische Gottesstaat nicht ihre Zurücknahme, sondern ihre Fortsetzung in Zeiten und in ökonomischen Regionen, worin Staaten in Bandenkriegen zu zerfallen drohen oder schon zerfallen sind. Als Ideologie vereint er die dominierenden Rackets mit dem Mob - indem er die Gesellschaft auf Vernichtung ausrichtet. Der Nationalsozialismus hat das allgemeine Paradigma geliefert: er hat den christlichen Erlösungsglauben in der Vorbereitung und Durchführung von totalem Krieg und Holocaust verweltlicht.
Um also die islamistische Ideologie des Selbstmordattentats in ihrem ganzen Wahnsinn zu begreifen, ist nicht so sehr die islamische Tradition von Bedeutung, als die Tatsache, daß um jeden Preis ein metaphysischer Feind benötigt wird (einer, wie ihn der alte Islam bei allen judenfeindlichen Tendenzen nicht kennt). Und hier hat der größte, der kollektive Selbstmordattentäter - die deutsche Volksgemeinschaft - auch den konkreten Weg gewiesen: Wer Millionen Juden umbringt, braucht sich um die Folgen nicht zu sorgen, wird im Gegenteil ein Wunder erleben. Für die Vernichtung wie für das Wunder fehlen in den islamistischen Staaten allerdings wesentliche Voraussetzungen. Ja gerade weil diese Voraussetzungen fehlen, nimmt der Vernichtungswahn prononciert religiöse Gestalt an. Solange die Juden nicht systematisch ermordet werden, erscheint ein Judenmörder eben als Märtyrer; solange die umfassende Erlösung von Israel noch nicht umgesetzt wird, kommt der einzelne, der sie nur punktuell vorantreibt, eben ins Paradies.
Das ist ein sehr allgemeiner Erklärungsversuch. Wer sich Beweise erhofft, kann, wo es um den Zusammenhang des Ganzen geht, ohnehin nur enttäuscht werden. Auch von Schuld zu sprechen, ist in bezug auf den Nationalsozialismus gleichsam eine Untertreibung.
Um die Zusammenhänge aber konkreter zu fassen, müßte von Untersuchungen wie z.B. dem leider ziemlich vergessenen Buch Robert Wistrichs: Der antisemitische Wahn. Von Hitler bis zum Heiligen Krieg gegen Israel ausgegangen werden. Darin wird im einzelnen deutlich gemacht, daß nirgendwo nach dem Ende des Dritten Reiches soviel Antisemitisches öffentliche Verbreitung fand wie in den arabischen Staaten. An Figuren wie z.B. Anwar as Sadat läßt sich andeutungsweise ermessen, wie wirksam das nationalsozialistische Erbe bei der Genese islamistischer Ideologie war und weiterhin ist, welche Bedingungen es bot und bietet, damit diese sich überhaupt entfalten kann. Der spätere Friedensnobelpreisträger sagte etwa 1953 in einem Interview der Kairoer Wochenzeitung Al Musawar über Hitler, auch wenn dieser scheinbar besiegt worden sei, in Wahrheit werde er doch als Sieger hervorgehen: "Deutschland wird gewinnen, weil seine Existenz für die Erhaltung des Weltgleichgewichts notwendig ist."
Das Gleichgewicht, für das die deutsche Vergangenheit steht, ist das "Sein zum Tode", der Vernichtungskrieg - als Antwort auf die Krise des Kapitals. Wie angedeutet: die vom Islamismus geprägten Länder sind von ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Situation her von den Voraussetzungen Nazideutschlands denkbar weit entfernt. Die unmittelbare Gefahr besteht ja auch nicht darin, daß aus einem dieser Staaten ein neues Drittes Reich hervorgehen würde, das die Shoah wiederholen könnte, die Gefahr liegt in einer Weltordnung, die schrittweise den Status Israels unterhöhlt. Die heutige Situation des Staats, in den sich die Überlebenden der Shoah geflüchtet haben und potentielle Opfer des Antisemitismus seither flüchten können, macht deutlich, daß es insofern um einen ganz konkreten Bezug und eine ganz konkrete Parteinahme gehen muß, wenn der kategorische Imperativ, alles zu tun, damit Auschwitz nicht sich wiederhole, unbedingt gelten soll.
Gegner einer Weltordnung aber, die behaupten, diese Ordnung habe mit Nationalsozialismus und Shoah nichts mehr zu tun - und darum auch nicht auf die Idee kommen, der Massenmord in New York könne antisemitisch sein; die davon ausgehen, der Antisemitismus sei nur eine beliebige Spielart des allgemeinen Irrsinns oder nach wie vor der Sozialismus des dummen Kerls, solche Globalisierungsgegner sollten endlich offen bekennen, daß sie mit jenem Imperativ gebrochen haben.

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