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Das gespaltene Subjekt des Erinnerns

Über Alfred Hrdlicka und Jean Améry

Von Gerhard Scheit

(Aus: Das Subjekt des Erinnerns? Hg. von Helene Belndorfer u.a. Klagenfurt: Drava 2011)
Das Subjekt des Erinnerns war ursprünglich ein Antifaschist, ein später Anhänger der Volksfront-Idee.

 
So wird es noch einmal beschworen vom Hrdlicka-Denkmal, dem „Denkmal gegen Krieg und Faschismus“ von Alfred Hrdlicka auf dem Wiener Albertinaplatz: Es blickt durch das „Tor der Gewalt“ hinauf zum Torso des Orpheus, der den Hades betritt und also den Widerstand symbolisiert – noch weiter hinauf zu dem hochragenden Stein, in den Teile der Regierungserklärung von 1945 gemeißelt sind.
Aber da liegt etwas vor diesem Subjekt auf dem Boden, das einem fast entgangen ist beim Blick auf den Widerstand und die Staats-Proklamation. Es ist die Figur des sogenannten „straßenwaschenden Juden“, der wie in dieser selber grauenerregenden Formulierung eingebaut wird in die steingewordene Selbstdarstellung des Staats. Im Zusammenhang der einzelnen Teile des Denkmals wird damit der fatale Schein erzeugt, die namenlosen Verbrechen seien eine Stufe gewesen auf dem Weg zu etwas Höherem: der Zweiten Republik, und hätten darum auch einen Sinn gehabt. Nur wenn man ganz nahe an die Figur heranrückt, sich womöglich neben sie hinkauert – auch um aus der Position des Täters herauszukommen – und die anderen Denkmalsteile ignoriert, mag man annehmen, sie wäre eine Darstellung der Verbrechen, die den jüdischen Naziopfern gerecht wird, und in ihr ballte sich überdies Widerstand zusammen: sie könnte sich erheben und sich wehren. Doch wie klein wäre sie dann noch immer, blickt man hinauf zu Orpheus und dem Stein des Staats.
In der Kunst ist die Frage der Proportionen entscheidend – die Frage, in welchem Verhältnis das Einzelne zum Ganzen steht; und darum ist die Kritik, die Ruth Beckermann und Simon Wiesenthal früh schon an dem Mahnmal übten, so scharfsichtig, auch im strikt ästhetischen Sinn, der vom politischen gerade hier nicht abgetrennt werden kann. Das Subjekt des Antifaschismus blickt herab auf den Juden, und es blickt hinauf auf den Staat. „Was immer dieses Denkmal den Wienern sagen will, mir sagt es: Im Staub seid ihr gelegen. Auf dem Bauch seid ihr gerutscht. Und das ist heute unser Bild von euch. (...) Dieses Denkmal paßt in die Stadt ohne Juden.“ [1]
Zugleich markiert die Figur einen Riß im Subjekt des Erinnerns. Im Unterschied zu anderen antifaschistischen Mahnmalen der Vergangenheit, die nur Tore der Gewalt und Orpheuse des Widerstands und in Stein gehauene Staatserklärungen präsentierten, sah sich jetzt in den 1980er Jahren der Bildhauer genötigt, auf das für den Antifaschismus irgendwie Abwegige hinzudeuten, es nicht einfach zu übergehen.
Der Antifaschismus ohne Juden war unglaubwürdig geworden. Das hing in Österreich damit zusammen, daß der Staat allmählich den internationalen Kredit verlor, sich als erstes Opfer Hitlerdeutschlands darzustellen. Dieses Selbstverständnis, vom Völkerrecht umstandslos abgeleitet, hatte es mehr als anderswo erlaubt, von den jüdischen Naziopfern ebenso abzusehen wie den Antisemitismus als Triebkraft der nationalsozialistischen Bewegung und die Vernichtung der Juden als Inhalt der Volksgemeinschaft zu verleugnen. So wurde dieses Land zum Inbegriff der postnazistischen Gesellschaft. Die Ungeheuerlichkeit der Zweiten Republik lag in dem festen Willen, einen Staat zum Opfer zu erklären, um über die Tatsachen der wirklichen Opfer, wie und von wem sie zu Opfern gemacht wurden, zu schweigen und die Täter, Mitläufer und Zuschauer zu decken. Sie fand unnachahmlichen Ausdruck in einer politischen und kulturellen Öffentlichkeit, die kaum etwas anderes war als ein permanentes Zuzwinkern. Das auszusprechen, heißt nun wiederum nicht, den Widerstand zu verdrängen, der sich selbst einmal auf ein neues Österreich, einen neuen Staat, eingeschworen hatte. Im Gegenteil: nur so, in der Kritik seiner Illusionen, aber auch im Verständnis der Notwendigkeit dieser Illusionen, kann er konkreter begriffen, muß nicht in Gestalt eines monströsen Orpheus mythologisiert werden.
Auf diesen Riß im Subjekt der Erinnerns gibt es aber auch eine scheinbar radikale Antwort: die einfache Umkehrung der vorangegangenen Konstellation und das beinhaltet die bruchlose Identifikation mit den jüdischen Opfern. Die Rezeption etwa von Thomas Bernhards späten Werken in der linksliberalen Öffentlichkeit ist dafür symptomatisch: eine Welle des Philosemitismus hat Kulturbetrieb, Geistes- und Sozialwissenschaften erfaßt.
Diese Inversion der antifaschistischen Verdrängung all dessen, was nicht in die Front der Volksfront paßte, brachte allerdings vieles zutage, das schon fast verloren und endgültig vergessen schien. Unter der Präambel, daß vollständige Einfühlung möglich sei, konnte eine Auseinandersetzung überhaupt erst stattfinden mit dem je Einzelnen, dem konkreten Schicksal Überlebender, mit ihren Biographien und ihren Werken, unabhängig von dem Zwang, alles der Volksfrontideologie anzupassen. Selbst was jener Präambel widerspricht, kann in der philosemitisch gestimmten Öffentlichkeit etwas leichter durchdringen, wenn es auch an Hindernissen weiterhin nicht fehlt: Ob es sich nun um einen Film von Claude Lanzmann oder einen Essay von Jean Améry, ein Gedicht von Stella Rotenberg oder einen Roman von Robert Schindel handelt – es konnte sich darin zeigen, wie groß der Spalt, der die postnazistische Gesellschaft durchzieht, wirklich sein muß. In einem Artikel für die Zeitschrift Zwischenwelt hat Renate Göllner „das Subjekt des Erinnerns“ mit solchen Werken und Texten konfrontiert, in denen es auf Unversöhnlichkeit stößt; die es nicht zur Ruhe kommen lassen; die Identifikation zugleich möglich und unmöglich machen und es damit zum Konflikt mit der Tätergesellschaft herausfordern. [2]
Bruchlose Identifikation jedoch, die das Subjekt heil läßt und von solcher Konfrontation enthebt, geht von allein über ins postmoderne Spiel, wonach es gar kein Subjekt des Erinnerns gebe, weil das Erinnern nur eine Abfolge von „Narrativen“ oder „Diskursen“ sei, die als ihren Effekt das Subjekt erst hervorbringen. Daß aber der Bildhauer ebenso wie der Beschauer des Mahnmals eine Entscheidung zu treffen hat, wenn er sich so oder anders erinnert, und daß erst darin das Subjekt eigentlich geschaffen wird, verschwindet im Jargon der Narrative, der auch über den Unterschied zwischen Illusion und Wahrheit hinwegredet.
Man könnte diesen Jargon, der inzwischen die Universitäten überflutet hat, auch als adäquate Ausdrucksform einer Generation verstehen, die nicht mehr unmittelbar, in den eigenen Familien, mit Tätern, Mitläufern und Zuschauern des Nationalsozialismus konfrontiert ist. So gesehen, wäre sein Siegeszug unaufhaltsam. In den vorangegangenen Generationen hat es noch – wie Renate Göllner ebenfalls schrieb – „eine gespenstische Nähe“ zu den Tätern gegeben, und aus ihr folgte die besondere Intensität und Vehemenz sowohl in der Leugnung der Tatsachen der Vergangenheit wie auch der Aufarbeitung im Rahmen der Zeitgeschichte und Exilforschung. Mit dem veränderten Erfahrungshintergrund der neuen Generationen erscheint es – nach Maßgabe eines Denkens, das selber dem Jargon bereits auf den Leim geht – geradezu logisch, daß Intensität und Vehemenz allmählich dahinschwinden, immer mehr folglich auch von Narrativen oder Diskursen reden und kaum jemand noch von der Wahrheit. Und wer Jean Améry zitiert, der einmal der Nachkriegsgeneration zurief: „… und brecht mit eurem Vater“ [3], der kann heute billig dem längst obsoleten, existentialistischen Narrativ subsumiert werden. Es ging Améry jedoch nicht bloß um den Bruch mit den damals noch in Amt und Würden stehenden „Ehemaligen“ und „Ewiggestrigen“, er hat vielmehr selbst schon den Austausch der Phrasen im Wechsel der Generationen beobachtet, nur daß er darin die Wiederkehr eines immergleichen Falschen wahrnahm – und das gerade auf der Seite der Linken, der er sich zugehörig fühlte. Erinnern hieß für ihn, die Konfrontation mit diesem Immergleichen in der Gegenwart suchen, weil die Gegenwart zuallererst negativ zu bestimmen sei: durch die Möglichkeit, daß Auschwitz sich wiederholt. Hier kann der Wahrheit nicht ausgewichen werden, hier entlarvt sich das Nachlassen der Vehemenz: durch die gegenwärtige Möglichkeit bleiben die Täter von damals so nah wie je. Amérys politische Interventionen, insbesondere nach dem Sechstagekrieg, besaßen diese allseitige Negativität: Brecht mit allen Tendenzen, die jene Möglichkeit nicht kategorisch ausschließen; die den Frieden suchen mit dem Fortwesen des Nationalsozialismus inmitten der Demokratie oder aber unter den Parolen des Antizionismus (heute kommen noch die des „Antirassismus“ hinzu) den Staat der Überlebenden in Frage stellen. [4]
Es sollte nun Améry keineswegs unterstellt werden, daß er sich etwa das Mahnmal eines zionistisch gewendeten Hrdlicka gewünscht hätte – mit einem jüdischen Orpheus vor einem großen Stein, der den jüdischen Staat symbolisierte. Sein Mahnmal war allerdings das „Law of Return“, das jeder Jüdin und jedem Juden das Recht gewährt, nach Israel zu kommen – die Antwort auf die „Nürnberger Gesetze“. Denn Israel spaltet das Subjekt des Erinnerns: in diesem Staat manifestiert sich, daß der postnazistischen Demokratie nicht zu trauen ist, auch und gerade dann, wenn sich ihre Bürger den „straßenwaschenden Juden“ als Identifikationsobjekt ausersehen haben.



[1] Ruth Beckermann: Unzugehörig. Juden und Österreicher nach 1945. Wien1989, 14.
[2] Renate Göllner: Das Subjekt des Erinnerns. Anmerkungen zu einem geplanten Kolloquium. In: Zwischenwelt (Wien) 2004/1, 85-87.
[3] Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. In: Werke. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard. Bd. 2. Hg. v. Gerhard Scheit. Stuttgart 2002, 170.
[4] Vgl. hierzu Jean Améry: Aufsätze zu Politik und Zeitgeschichte. Werke Bd. 7. Hg. v. Stephan Steiner. Stuttgart 2005, 29-206.
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