>> blog        >> textarchiv         >> publikationen         >> audio        >> filme         >> kontakt         >> links [>>|]  
 
 

Ökonomie der "Endlösung"?

Antisemitismustheorie zwischen Funktionalismus und Wertkritik

von Stephan Grigat

(Weg und Ziel 1/1997)

 
Zu den meisten Kriegsverbrechen, Massakern und Schlächtereien in der Geschichte gibt es eindeutige Stellungnahmen. Ein Massaker im Rahmen eines kolonialen Krieges wird entweder mit dem Hinweis auf militärische oder politische Notwendigkeiten gerechtfertigt oder aus humanitären Gründen verurteilt. Der Sinn eines solchen Massakers ist aber auch seinen Kritikern einsichtig. Man verurteilt das Verbrechen, weiß aber, warum es stattfindet.
Bei Auschwitz stellt sich das anders dar. Die Verurteilung des Massenmordes an den europäischen Juden ist (fast) einhellig. Dafür wird in der Regel davon ausgegangen, daß sich in diesem Fall das letztendliche Motiv für dieses Verbrechen der Kenntnis und der Nachvollziebarkeit der Kritiker entzieht.
Mit dieser Annahme brachen Ende der achtziger Jahre ein Historiker und eine Historikerin. Götz Aly und Susanne Heim haben mit ihren Veröffentlichungen eine heftige Kontroverse ausgelöst, in deren Mittelpunkt die Diskussion um Rationalität und Irrationalität der von den Nazis betriebenen Vernichtung von Juden stand.
Die Diskussion über eine Ökonomie der "Endlösung" wird derzeit kaum geführt. Die Thesen von Aly/Heim haben aber - zumeist in stark vulgarisierter Form - Eingang in die linken Diskurse über Antisemitismus und Judenvernichtung gefunden. Immer wieder werden Versatzstücke aus den Arbeiten von Aly/Heim in Diskussionen eingebracht. Meist dienen sie dazu, äußerst verquere Vorstellungen von Faschismus zu untermauern und dementsprechend blödsinnige antifaschistische Strategien zu rechtfertigen. Aus diesem Grund wird hier versucht, einige der grundsätzlichen Punkte aus der bereits vor Jahren geführten Diskussion über die Thesen von Aly/Heim erneut darzulegen.
Phasen der Vernichtung
Götz Aly und Susanne Heim wenden sich in ihren Arbeiten stets gegen die in der Wissenschaft vorherrschende Ansicht, Auschwitz als Synonym für die Massenvernichtung der europäischen Juden sei letztendlich unerklärlich. Sie verurteilen alle Ansätze, die in Auschwitz keinen Sinn entdecken können. Zentrales Anliegen ihrer Forschungen ist es, die angebliche Rationalität des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms herauszuarbeiten. Ausgangspunkt für ihre Überlegungen ist die personelle und institutionelle Zuschreibung der Vorbereitung, Entwicklung, Legitimierung und Durchführung der "Endlösung". Maßgeblichen Anteil an der Vorbereitung und vor allem der Legitimierung hätte demnach eine Gruppe junger, karriereorientierter, rationalistisch handelnder Wissenschaftler und Funktionäre aus der zweiten und dritten Reihe in der NS-Hierarchie gehabt - "allen voran Ökonomen, Agrarwissenschaftler, Bevölkerungsexperten, Arbeitseinsatz-spezialisten, Raumplaner und Statistiker." Institutionell wird der Entschluß zur "Endlöung der Judenfrage" als auch deren Vorantreiben vornehmlich wirtschaftspolitischen Institutionen zugeschrieben. Von besonderer Bedeutung seien dabei die Vierjahresplanbehörde unter Göring und das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (RKW) gewesen. Die generelle Zuständigkeit für antijüdische Maßnahmen habe bei der Vierjahresplanbehörde gelegen. Diese habe die Durchführung der geplanten Aktionen "regelmäßig dem Reichssicherheitshauptamt (übertragen)".
Mit dieser institutionellen und personellen Zuschreibung wird bereits deutlich, daß für Aly/Heim nicht in erster Linie Rassismus und Antisemitismus für die Judenverfolgung und -vernichtung im "Dritten Reich" ausschlaggebend waren, sondern sozial- und wirtschaftspolitische Gründe.
Die Entwicklung zur Errichtung von Vernichtungslagern ist nach Aly/Heim in drei Phasen abgelaufen. In der Zeit von der Machtübernahme 1933 bis zum Beginn des Krieges 1939 sei es noch keineswegs um eine völlige Vernichtung gegangen. Aber auch die in diesen Zeitraum fallenden antisemitischen Aktivitäten seien ökonomisch motiviert gewesen. Die "Arisierungen" jüdischen Eigentums werden als Beispiel angeführt, daß diese antisemitischen Maßnahmen Teil eines groß angelegten Programms zur Rationalisierung und Konzentration der Wirtschaft gewesen seien. Insbesondere an den Vorgängen in Wien soll gezeigt werden, daß es den Nazis darum ging, "Entjudung und Rationalisierung der Wirtschaft miteinander zu verknüpfen".
Die zweite Phase setzen Aly/Heim mit dem Überfall auf Polen 1939 an. Ab dieser Zeit habe die Planung der Massenvernichtung eingesetzt. Diese Planung sei aber nur im Kontext der allgemeinen Planung zur Umstrukturierung der eroberten Gebiete, die mittels einer gigantischen Vernichtungsaktion vollzogen werden sollte, zu verstehen. Entscheidend für die Argumentation von Aly/Heim ist es, daß sie darauf hinweisen, daß diese Pläne weit mehr Menschen für die Vernichtung vorsahen als die Juden. Diese Pläne hätten von Beginn an ebenso auf die Vernichtung großer Teile der russischen Bevölkerung und anderer als "überzählig" definierter Menschen abgezielt. Insofern mache es keinen Sinn, die Pläne zur Vernichtung der Juden isoliert zu betrachten. "Negative Bevölkerungspolitik" sei prinzipiell das Mittel der Deutschen bei der Neustrukturierung der eroberten Gebiete gewesen.
Die dritte Phase der Radikalisierung der antisemitischen Maßnahmen setzen Aly/Heim mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion 1941 an. In dieser Phase wurden die Pläne zur Vernichtung in die Tat umgesetzt. Auch hier bestehen Aly/Heim darauf, daß die Judenvernichtung nur ein Teil von viel weitreichenden Vernichtungspläne war. Daß sich die Umsetzung dieser Vernichtungspläne zunächst in erster Linie gegen die Juden richtete, wird einerseits mit den Bedingungen des Krieges versucht zu erkären. Andererseits wird auf die soziale Lage insbesondere der osteuropäischen Juden verwiesen:
"Mit den Juden ließ sich (...) ein großer Teil der sichtbaren Armut vernichten, verschwanden die elendsten Quartiere in den Städten. Völkermord war hier eine Form, die soziale Frage zu lösen."
Der letzte Satz liest sich wie eine Zusammenfassung der Thesen von Aly/Heim. Die Vernichtung der Juden erscheint als Instrument der staatlichen Sozialpolitik. Der Antisemitismus der Nazis wird in erster Linie als Instrument zur Täuschung der Massen angesehen. Die Nazis hätten ihren Antisemitismus zunächst als "populistisch orientiertes rassistisches Programm" gedacht. Daß heißt, sie "nutzten den historischen Antisemitismus" ohne wirklich Antisemiten zu sein.
Antisemitismus als Taktik?
Die Forschungen von Götz Aly und Susanne Heim haben wichtige Beiträge zur Vertiefung der Erforschung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik geleistet. Durch ihre Untersuchungen wurden bestimmte Aspekte wie etwa die Rolle bestimmter Wissenschaftsdisziplinen bei der ideologischen und organisatorischen Vorbereitung der Judenvernichtung in den Blick der Forscher und Forscherinnen gerückt. Ihre aus ihren Forschungen abgeleiteten Thesen hingegen haben massive Kritik hervorgerufen.
Erstens haben Aly/Heim ihre personelle und institutionelle Zuschreibung der Planung und Durchsetzung der "Endlösung" ungenügend abgesichert. Sowohl die Behauptung, die von Aly/Heim näher untersuchte Personengruppe hätte die "Endlösung" letztendlich durchgesetzt als auch die These von der hauptverantworlichen Zuständigkeit der Vierjahresplanbehörde und der Übertragung der Durchführungskompetenzen an das Reichssicherheitshauptamt sind nicht ausreichend belegt.
Zweitens zielt die Kritik auf das Rassismusverständnis von Aly/Heim. Wird Rassismus oder auch Antisemitismus in erster Linie als Vorurteil begriffen, so lassen sich damit tatsächlich nicht die nationalsozialistischen Verbrechen erklären und man muß sich gezwungenermaßen auf die Suche nach anderen Erklärungsmöglichkeiten begeben. Rassismus und insbesondere der rassistische Antisemitismus der Nazis ist aber weit mehr als nur ein Vorurteil oder eine charakterliche Deformation von Individuen.
Der rassistische Antisemitismus der Nazis tritt vielmehr als allumfassende Welterklärung auf, die sich auf angeblich natürliche Gesetze beruft. Er imaginiert sich seine eigene naturwissenschaftliche Basis. Zugespitzt könnte man davon ausgehen, daß der Nazi-Antisemit, so er seine eigenen Wahnvorstellungen ernst nimmt, zwangsläufig zur sogenannten "Endlösung" gelangt. Er braucht dafür keine außerhalb seiner Welterklärung liegenden Gründe, also keine ökonomische Rationalität und auch keine als solche definierte Notwendigkeiten der Bevölkerungspolitik. Wäre dem nicht so und man bräuchte für zur Tat schreitenden Antisemitismus tatsächlich das Versprechen von wirtschaftlichem Nutzen, von ökonomischer Rationalität, so müßte es umgekehrt ebenso funktionieren. Das heißt, mit dem Hinweis auf die wirtschaftliche Unsinnigkeit des Antisemitismus müßten sich Antisemiten von ihren Vorhaben abbringen lassen. Das dem nicht so ist, wußten schon Adorno und Horkheimer:
"Daß die Demonstration seiner ökonomischen Vergeblichkeit die Anziehungskraft des völkischen Heilmittels eher steigert als mildert, weißt auf seine wahre Natur: es hilft nicht den Menschen, sondern ihrem Drang nach Vernichtung. (...) Gegen das Argument mangelnder Rentabilität hat sich der Antisemitismus immun gezeigt. Für das Volk ist er ein Luxus."
Dem Antisemiten genügt also sein Antisemitismus zum antisemitischen Handeln. Gelingt es jemanden andere "Gründe" für Judenverfolgungen aufzuzeigen - seien sie bevölkerungs-politischer, sozial- oder wirtschaftspolitischer, medizinischer oder sonstiger Art - so dienen diese zwar als willkommener, aber auch so schon längst erbrachter Beweiß für die Richtigkeit des eigenen Antisemitismus.
Derartige Überlegungen können Aly/Heim bei der Formulierung ihrer Thesen nicht beeinträchtigen, da bei ihnen Antisemitismus stets nur als Herrschaftsmittel, als Ablenkungsmanöver, als Mittel zur Durchsetzung etwas außer seiner selbst liegenden in Erscheinung tritt. Sie stehen damit in der schlechtesten Tradition der marxistisch-leninistischen Linken, für die Antisemitismus und Rassismus immer schon eine besondere Perfidie der herrschenden Klasse war, über die die ihr Angehörenden frei, als selbstbewußte Subjekte im Kampf gegen politische Emanzipationsbestrebungen verfügen können. In bezug auf den Nationalsozialismus zeigt diese Sichtweise besonders fatale Folgen. Der Antisemitismus, insbesondere der der führenden Kreise in Politik und Wirtschaft, wird in bezug auf die sich aus ihm ableitbaren Handlungen völlig unterschätzt.
Die These von Aly/Heim, die Judenvernichtung sei als Vernichtung von sichtbarer Armut betrieben worden, läßt sich leicht durch den Verweis auf die tatsächliche Sozialstruktur im Osten Europas widerlegen. Es gab bei der Verteilung der Armut keine nennenswerten Unterschiede zwischen Juden und Nicht-Juden. Außerdem verkennt diese These wiederum den Charakter des nationalsozialistischen Antisemitismus, dem es zur Ermordung von Juden eben ausreicht, daß es sich um Juden handelt.
Mit ihrer Auffassung, die Shoah sei nur im Rahmen der umfassenden, weitere Vernichtungen einschließende Modernisierungspläne der Nazis zu begreifen, laufen sie Gefahr, den Unterschied zwischen der antisemitsch motivierten Massenvernichtung in Auschwitz einerseits und dem imperialistisch-rassistischen Feldzug gegen die sonstige Bevölkerung andererseits einzuebnen. Selbstverständlich gab es diese umfassenden Vernichtungspläne bezüglich Russen, Polen und anderen slawischen Völkern. Diese Pläne habe sich bereits massiv in der Kriegsführung im Osten niedergeschlagen. Nur ist fraglich, ob die Judenvernichtung als ein - quasi avantgardistischer - Teil dieser Vernichtungspläne betrachtet werden kann. Bei den Vernichtungsplänen gegen Russen, Polen etc. ging es um klar definierte Zwecke. Die an ihnen begangenen Untaten fallen in jene eingangs erwähnte Kategorie von Verbrechen, bei denen auch dem Kritiker die Ziele dieser Taten offen vor Augen liegen.
Man verfolgte bestimmte Ziele wie die Erlangung militärischer Vorteile, Eroberung größerer Gebiete oder Ausschaltung tatsächlicher oder potentieller Widerstandskämpfer. Daß die deutsche Wehrmacht auch dabei mit in der Geschichte fast beispielloser Brutalität vorging darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Handlungen zweckgebunden waren. Eine endgültige Vernichtung des "Russentums" war nie genuines Ziel der nationalsozialistischen Ideologie. Im Fall des Krieges gegen die Sowjetunion diente der Rassismus tatsächlich als Legitimaionsideologie. Er sollte den mit allen Mitteln vorgehenden Imperialismus der Deutschen rechtfertigen und war sich nicht Selbstzweck.
Prinzipiell ist der Hinweis von Aly/Heim auf die Bedeutung des Kriegsbeginns und später des Angriffs auf die Sowjetunion für die Radikalisierung der antisemitischen Maßnahmen richtig. Nur muß dabei nicht mit wirtschafts-, sozial- oder bevölkerungspolitischen Notwendigkeiten oder Optionen argumentiert werden. Durch den Krieg erlangten die von den Nazis selbst erneut reproduzierten Figuren des "Monopol-", "Kollektiv-" und letztlich auch "Liberalitätsjuden" in den Augen des nationalsozialistischen Staates reale Gestalt und verfügten in Form der alliierten Kriegsgegner nun über ein tatsächliches Bedrohungspotential. Der beginnende Krieg erschien als existentieller Entscheidungskampf gegen die Juden. So gesehen wurde die Judenvernichtung mit dem Krieg rational, aber nicht im wirtschaftlichen Sinne, sondern rational innerhalb des faschistischen Wahns.
Sinn, Ökonomie, Vernichtung
Gibt es eine Sinnhaftigkeit von Auschwitz oder nicht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Massenvernichtung der Juden oder nicht? Auch wenn man die Thesen und Schlußfolgerungen von Aly/Heim kritisert und weitestgehend verwirft, so bleiben diese Fragen weiterhin bestehen.
Hannah Arendt war eine der striktesten Vertreterinnen der These von der absoluten Unsinnigkeit der Massenvernichtung. Sie bezeichnete Auschwitz als eine Welt, "in der nur noch gestorben wurde, in der es keinen, aber auch gar keinen Sinn mehr gab." Sie zieht dabei allerdings nicht in Betracht, daß auch eine objektiv als sinnlos erkannte Handlung im Rahmen einer Ideologie logisch, sinnvoll, einleuchtend sein kann. Raul Hilberg beispielsweise vertritt zwar ebenso die Ansicht, daß die Ermordung von mehr als fünf Millionen Juden ein sich selbst genügender Prozeß war, der keineswegs in Gang gesetzt wurde, um ein anderes Ziel zu erreichen, sondern selbst schon das Ziel war. Er erkennt aber, daß vom Standpunkt des Antisemiten Massenmord an Juden Sinn machen kann. Dies bezeichnet er als einen der Hauptgründe, warum es zu Auschwitz kam. Dieser Gewaltausbruch fand statt, "weil ihm die Täter einen Sinn beimaßen."
Diese Sichtweise unterscheidet sich allerdings maßgeblich von der von Aly und Heim. Der Sinn von Auschwitz wird hier nicht in einer "Ökonomie der Endlösung" gesehen, sondern der Sinn entsteht nur in den Augen der Nazis.
Weiter oben ist das Rassismus- und Antisemitismusverständnis von Aly und Heim kritisiert worden. Vermutlich müßte man darüber hinausgehen und ebenso ihren Begriff von Ökonomie hinterfragen. Sie postulieren die Existenz einer "Ökonomie" der Massenvernichtung der Juden und meinen dabei immer ökonomische Nützlichkeit. Ein Zusammenhang zwischen Auschwitz und der ökonomischer Verfaßtheit der Gesellschaft wird bei ihnen nur insofern thematisiert, als der Drang nach fortschreitender Verwertung einerseits und die Mißachtung nicht verwertbarer Menschen und Dinge andererseits als Ausgangspunkt für die Art von Sozial- und Bevölkerungspolitik ausgemacht werden, die sie für die sogenannte "Endlösung" verantwortlich halten. Die Grundlage dieses Strebens nach fortschreitender und möglichst besserer Verwertung und deren möglicher Zusammenhang mit Auschwitz geraten dabei aus dem Blick. Das heißt, Aly und Heim verbleiben bei ihrer Analyse an der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft.
Sie haben einen verkürzten Begriff vom Gegenstand ihrer eigentlichen Kritik. Wollte man so etwas wie eine "Ökonomie der Endlösung" untersuchen, so müßte man zunächst versuchen, die Entwicklung, die letztendlich zu Auschwitz geführt hat, aus dem Wertgesetz und der Warenförmigkeit zu entwickeln und nicht erst bei den aus dem Wertgesetz und der Warenförmigkeit resultierenden Erscheinungen mit der Analyse beginnen.
Einer der wenigen Versuche, den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Auschwitz auf der einen und Wertgesetz und Warenförmigkeit auf der anderen Seite zu untersuchen stammt von Moishe Postone. Er rekapituliert die Grundkategorien des Marxschen Kapitals und kommt über die Analyse des Doppelcharakters der Ware und der diesem entsprechenden Teilung in konkrete und abstrakte Arbeit zu dem Schluß, daß die im modernen Antisemitismus den Juden zugeschriebenen Eigenschaften denen entsprechen, die die Wertdimension der Dinge für die Individuen der bürgerlichen Gesellschaft darstellt. "Mehr noch: Diese Dimension - wie die unterstellte Macht der Juden - erscheint nicht unmittelbar, sondern nimmt vielmehr die Form eines stofflichen Trägers, der Ware, an."
Der Wert existiert nicht real. Er ist lediglich ein Produkt menschlicher Vorstellungskraft: er ist ein Fetisch. Da er selbst keine reale Substanz besitzt braucht er eine stoffliche Hülle. Diese findet er im Gebrauchswert der Ware, der so zum materiellen Träger des Tauschwerts wird. Wird der Wert zum sich selbst verwertenden Wert, ist er Kapital. Als Kapital besitzt der Wert die extremste Form von Abstraktheit und Mobilität. Die Juden werden dementsprechend nicht selbst als Abstraktheit, Mobilität etc. angesehen, sondern nur mehr als die stofflichen Träger dieser Abstraktheit. Nach Postone gerät der in der Kritik der politischen Ökonomie sichtbar werdende Gegensatz von stofflich Konkretem einerseits und Abstraktem andererseits zum "rassischen Gegensatz von Arier und Jude."
Für die nationalsozialistische Massenvernichtungspolitik bedeutet die Betrachtung des Juden als stofflichen Träger der Abstraktion, daß Auschwitz nicht wie die gewöhnlichen kapitalistischen Fabriken funktionierte, in denen Wert in der Hülle von Dingen produziert wird, sondern "Auschwitz war eine Fabrik zur Vernichtung des Werts, das heißt, zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten."
Auschwitz war also die Organisierung eines industriellen Prozesses, der dazu führen sollte, das Konkrete vom Abstrakten zu "befreien". Die der Vernichtung vorausgehende Entmenschlichung der Opfer erscheint so als Versuch, den Juden die "Maske" der Menschlichkeit wegzureißen und sie als das zu zeigen, was "sie wirklich sind": nicht einmal Abstraktion, sondern nur Träger von Abstraktion. Diese wurden dann ausgerottet. Dabei vergaß man jedoch nicht, "die letzten Reste des konkreten Gebrauchswerts abzuschöpfen: Kleider, Gold, Haare, Seife."

Wertkritik und Antisemitismus
"Auschwitz ist marxistisch nicht erklärbar." Diese Behauptung wäre richtig, würde sie sich nur auf die Tradition der marxistisch-leninistischen Faschismustheorie, in der Antisemitismus und die Judenvernichtung unter den Nazis tatsächlich nie adäquat reflektiert wurden, beziehen. In weiten Teilen stehen Aly und Heim in dieser Tradition. Moishe Postone hingegen arbeitet zwar mit Kategorien aus der Kritik der politischen Ökonomie, betont aber, daß die Shoah keine funktionale Bedeutung hatte. Die Shoah ar sich selbst Zweck – "Ausrottung um der Ausrottung willen." Postones Ansatz ist ein gutes Beispiel dafür, daß es keinen Sinn macht, den Marxismus auf seine vom dogmatischen Parteikommunismus sowjetischer Prägung beeinflußten Richtungen zu reduzieren.
Jenseits dieser Richtungen findet seit Beginn der neunziger Jahre eine verstärkte Rezeption von Postones Ansatz statt. Äußerst kritisch setzt sich Klaus Holz mit ihm auseinander. Postone identifiziert die Verkehrtheit des ideologischen Bewußtseins mit den Verkehrungen der Warenform. Nach Holz konstruiert er damit eine "ontologische Ideologietheorie", die obsolet sei. Statt dessen müsse der Antisemitismus als Ideologie dadurch erklärt werden, "daß man die Struktur des Antisemitismus in ihrer Entstehung, in der Subjektentwicklung nachzeichnet."
Gegen Holz läßt sich einwenden, daß die Denkformen, also auch die Verkehrtheit des ideologischen Bewußtseins, tatschlich in der Warenform wurzeln. Worin sollten sie in einer warenförmigen Gesellschaft denn auch sonst begründet sein? Wenn Holz fordert, die Struktur des antisemitischen Bewußtseins daraufhin zu untersuchen, "unter welchen sozialen und subjektseitigen Bedingungen sie entsteht", will er damit zwar einen Kontrapunkt zu wertkritischen Analysen setzten, zeigt in Wirklichkeit aber nur deren Notwendigkeit auf, da die zu untersuchende grundlegende soziale Bedingung gerade die Warenproduktion mit der daraus resultierenden Warenförmigkeit der menschlichen Beziehungen ist, und die ebenfalls zu untersuchende grundlegende subjektseitige Bedingung die, daß die unter der Herrschaft des Werts lebenden Menschen sich beständig als kapitalproduktiv, also zur Verwertung des Werts geeignet, und als staatsloyal erweisen müssen.
Gewichtiger als Holz' Kritik ist der Vorwurf, Postone habe die Rolle des Staates bei seinen Überlegungen vernachlässigt. Joachim Bruhn hat darauf hingewiesen, daß Postone ansatzweise sogar auf eine potentiell positive Rolle eines wahrhaft bürgerlichen, am jus soli orientierten Staates spekuliert. In eine ähnliche Richtung zielt die Kritik der Antifaschistischen Liste Göttingen, die Postone zurecht vorhält, seine dialektische Methode nicht konsequent auf die Konstitution des nationalsozialstischen Staates angewendet zu haben.
Stark rezipiert wurden die wertkritischen Analysen von Postone auch in den Zeitschriften "Bahamas" und "Krisis". Roswitha Scholz versucht Postones Ansatz mit den grundsätzlichen Thesen der Krisis-Gruppe zum "Turbo-" oder "Kasinokapitalismus" in Einklang zu bringen. Für Postone war die Identifizierung der Juden mit dem Wert im Nationalsozialismus entscheidend. Der Wert ist die Verkörperung abstrakter Arbeit. Nach Ansicht der Krisis-Gruppe nimmt diese abstrakte Arbeit heute rapide ab. Der Wert habe daher längst begonnen, "obsolet zu werden". Nach Scholz Ansicht befinden wir uns im "historischen Ausgang des Wertverhältnisses". Verschwindet der Wert, wird aber auch Postones Ansatz, bei dem der Wert die zentrale analytische Kategorie ist, tendenziell obsolet. Es stellt sich die Frage, wie sich dann heute Antisemitismus äußern kann. Scholz' Antwort darauf lautet, daß sich Antisemitismus gerade daraus ergeben könnte, daß der Wert verschwindet, seine Zwänge aber erhalten bleiben. Problematisch wird diese Einschätzung - abgesehen von der fragwürdigen These vom tendenziellen Verschwinden abstrakter Arbeit - wenn daraus gefolgert wird, staatliche Vernichtungsprogramme seien in Zukunft weitgehend auszuschließen. Zwar ist eine staatlich organisierte Massenvernichtung von Juden derzeit tatsächlich kaum vorstellbar; nur läßt sich das wohl kaum mit dem angeblichen Verschwinden abstrakter Arbeit oder, wie Scholz es tut, mit der fortgeschrittenen Globalisierung erklären. Sich auf die partiell zivilisierende und zügelnde Rolle der Kapitalbewegungen zu verlassen, ist ungefähr so beruhigend wie Robert Kurz' Versicherung, ein neuer Faschismus sei in Deutschland schon deswegen nicht möglich, weil heute massenhaft "junge Männer mit Zöpfchen und Ohrklips" herumrennen.
In der weiteren Auseinandersetzung mit Postone wird versucht werden müssen, wertkritische Analyse des Antisemitismus nicht mit dem Ziel zu betreiben, nachweisen zu wollen, daß extreme Formen des Antisemitismus beim gegenwärtigen Zustand der Warengesellschaft unmöglich sind. Vielmehr geht es um eine allgemeine Theorie des Fetischismus, in der ein auf Massenvernichtung abzielender Antisemitismus seinen Platz als eine besonders gefährliche, und als solche nachdrücklich zur Abschaffung der Wertverwertung mahnende, Form des Fetischismus hat.
[DOC][PDF][|<<]