>> blog        >> textarchiv         >> publikationen         >> audio        >> filme         >> kontakt         >> links [>>|]  
 
 

"Sex is dumb, boring hippie stuff"

Über das strukturell sexbesessene bürgerliche Subjekt - ein Parforceritt

von Lars Quadfasel

 
Auf die Avance eines Groupies soll, will man dem Film "Sid and Nancy" Glauben schenken, Johnny Rotten, Sänger der Sex Pistols, bloß "Sex is dumb, boring hippie stuff" geantwortet und sich weggedreht haben. Falls dies stimmt, traf er damit eine der radikalsten Aussagen über Sexualität, die sich denken lässt. Denn allen, die sich ins Gerede über Sex einbringen, ob Homo- oder Heterosexuelle, SexualrevolutionärInnen und katholische Enthaltsamkeitspropagandisten, Rockstars, BRAVO-AutorInnen, Therapeuten und FrauenLesben, ist gemein, dass sie, egal wie sie ihre Stellung zum sexuellen Begehren definieren, dieses eines sicher nicht finden: belanglos und langweilig. Im Gegenteil: Die Sexualität erscheint in der bürgerlichen Gesellschaft mit all ihren getrennten Sphären als diejenige, in der die Individuen ihre echtesten Gefühle, ihre nachhaltigsten Siege und Niederlagen, kurz, ihren wesentlichen Sinn erfahren. Als schicksalshafte Bestimmung trägt die Gesellschaft den Einzelnen tagtäglich die Suche nach der sexuellen Identität auf. Es winkt nicht weniger als die Belohnung, den ureigenen Wesenskern hier zu finden und befreit - allen Erfahrungen, "ein geknechtetes und verächtliches Wesen" (Marx) zu sein, zum Trotze - aufzuatmen: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein. Dass diese Hoffnung sich kaum je erfüllt, gehört recht gerade zum Reiz dazu.

In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht der Zwang zur Identität, zu wissen, wer man ist und nicht ist und dass man der ist, der man auch gestern war. (Auch wären Verträge sinnlos, deren Nichterfüllung damit begründet werden könnten, bei der Unterschrift ein anderer gewesen zu sein.) Das mit sich selbst identische bürgerliche Subjekt aber ist eigentümlicherweise eine leere Hülle, eine bloße Form, die sich vollzieht als Realabstraktion an den Individuen. Sie wird vollzogen als abstrakte Gleichsetzung der einzelnen vor den Institutionen von Markt und Staat zum Zwecke ihrer Vergleichbarkeit: Vor dem Gesetz wie vor dem Geld sind alle gleich, unabhängig von ihrer individuellen Beschaffenheit, und das heißt: gleich nichtig. Der Grund des Subjektseins der Individuen, ihr Inhalt, liegt außerhalb der jeweiligen Konkretion der Subjektform, ihres menschlichen Trägers, ohne dass dieser Inhalt doch von dem Träger gänzlich unabhängig gedacht werden könnte. Wäre er nämlich eine bloße Hülle, leere Identität mit sich selbst, so wäre er gar nichts, denn die Identität bedarf eines Anderen, sich darzustellen und als Identität so erst sich zu konstituieren.

Dieses Andere ist die Arbeit. Im glücklichen Zeitalter der Bourgeoisie konnte sie gedacht werden als zweckgerichtete Bearbeitung der Natur, als Setzung der Natur unter den Willen des autonomen Subjekts, das sich in ihr veräußert und sich im Resultat seiner Veräußerung, der Aneignung der Objektwelt, als ihr Herr, eben als Subjekt konstituiert. Nur wird diese Veräußerung realiter nicht vollzogen, auf dass das Subjekt sich verobjektiviert, sondern von den Produkten seiner Veräußerung selbst zum Objekt gemacht wird: Diese Erfahrung mussten als erste die Arbeiter machen, zwischen deren Denken und Handelns sich, sobald sie Arbeiter wurden, die ihnen als fremd gegenüberstehenden, sowohl besitz- wie zweckmäßig äußeren Produktionsmittel schoben und Willen wie Tätigkeit selbst veränderten. Ihre Arbeitskraft wird im Tausch veräußert an den Kapitalisten, und ihre Arbeit tritt ihnen als geronnene gegenüber, als Kapital - ob als Maschine oder als Warenspektakel -, und degradiert sie zum Anhängsel ihrer ihnen entfremdeten Produkte: als als Einzige überflüssige und nichtige, die dem Zweck zu gehorchen haben, der Akkumulation von Kapital als Selbstzweck zu dienen.
Als solche sind sie tatsächlich subjektiviert im eigentlichen Wortsinne des 'subiacere', nämlich unterworfen; ihr eigener Herr, niemandes Knecht - außer den Produkten ihres eigenen und zugleich äußerlichen freien Willens. Damit aber unterscheiden sie sich beileibe nicht ums Ganze von den Bourgeois, deren Selbstbewusstsein historisch sich länger gehalten haben mag, bis es ebenfalls gezwungen war, vor der Übermacht des gesellschaftlichen Objektiven, der autonomen, selbstzweckhaften Gesetze der Kapitalverwertung zu kapitulieren.

Verwiesen auf den Zwang zur mit sich selbst identischen Subjektform, deren Substanz oder Grund, der freie Wille, ihnen nicht nur ebenso feindlich wie unverstanden als geronnenes Produkt, als Kapital, gegenübersteht, sondern ihnen auch als nicht in den Subjekten heimischer wahrlich unheimlich erscheint, suchen die bürgerlichen Subjekte den tieferen Grund für ihren Grund dort, wo das Unheimliche dingfest zu Hause ist: zu Hause. Die Privatheit ist gesellschaftlich gesetzt als ihr notwendiges Gegenteil, über das sich nur sagen lässt, dass sie eben notwendig ist: zum Konsum der Produkte der Arbeit, ohne die keine Produktion auskäme, nach eigenem Gusto und zur muße- und liebevollen Reproduktion der Produzenten. Wie dies geschähe, ist nicht von Belang, solange es geschieht; und so scheinen die Gesetze des Kapitals, die der öffentlichen Welt Form geben, an der Haustür zu enden, wo die Frau wartet - denn Subjektsein war dem Mann vorbehalten. Vom Vertragszwang und Tausch vom Gleichen mit Gleichem befreit, muss ihm die Privatsphäre zugleich als Idyll wie als unverständliche, weil formlose Heimstatt des ganz anderen erscheinen. Als Inbegriff dessen erscheint eben die Frau, das gefühlige, liebevolle, ganz sich als Geschlecht erschöpfende Etwas, von dem man noch heute sagt: "verstehe einer die Frauen". Im Wechselspiel vermag der Mann im Unheimlichen sich Grund zu geben, einmal im Leben einen Baum zu pflanzen und einen Sohn zu zeugen, um aus dem gleichen Grund heraus den formlosen Sumpf des Privaten wieder zu fliehen in die formvollendete Welt des Kapitals, die Öffentlichkeit: Sei es als Sorge um die Familie, für die es gälte, mehr zu schaffen, sei es als Sorge um sich, selbst formlos zu werden, zu versumpfen, wie es Sokrates fürchtete, als er lieber öffentlich philosophierte als daheim sich mit Xanthippe zu reproduzieren.

Im anderen, weiblichen Geschlecht, dem Geschlecht, findet das bürgerliche Subjekt Mann so seinen Grund, Subjekt zu sein. Aus dem Zwang zur Identität in der Subjektform wird die Gier danach, wie sie sich im Wechselspiel zwischen dem Dasein als leerer Form und ihrem scheinhaften Gegensatz, der formlosen Fülle an Gefühl, äußert und darin auch erst ganz realisiert: Die Gier nach Identität produziert erst die Bedingungen, unter denen der Zwang entsteht. In der Vervollkommnung der kapitalen Gesellschaft wird dieses Paradoxon anschaulich, weil sie zugleich die Krise der geschlechtlichen Identität bedeutet. Da das Kapital für seine Arbeitskräfte kein Geschlecht kennt und für seine Waren keinen Absatzmarkt, der Tabu wäre, eröffnet sich unter dem durchgesetzten Kapitalverhältnis für Frauen die Möglichkeit, selbst Subjekt zu werden und das Menschenrecht zu genießen, Waren - Arbeitskraft wie Reproduktionsmaschinen - einzutauschen. Per Kühlschrank, Pennymarktmarmelade und Kulturindustrie wird die Warengesellschaft in der Privatheit heimisch, während die Frau nicht mehr mit Sicherheit dort wartet.
Kein anderes Geschlecht steht den nun geschlechtsloser werdenden bürgerlichen Subjekten zur Verfügung, um den Grund ihres Subjektseins abzugeben. So wird der Gegensatz im Selbst selber gesucht, um das subjektive Selbst als begründet-einheitliches aufrecht zu erhalten. Zu finden sei es in den Gefühlen, den letzten amorphen, scheinkonkreten Höhlen, in die sich das Wahre und Geheimnisvolle - das phantastische Wunschbild des noch nicht der Warenwelt, die alle Menschen und Dinge der Außenwelt mit ihrer Form erfasst hat, Zugehörigen - zurückgezogen haben soll. Als das Gefühligste und scheinbar Konkreteste - wenn auch oder besser: gerade weil es kaum fassbar ist - aber tritt seit dem romantischen Gegensatz von Gefühl und Vernunft das Begehren auf. Nur darum interessieren sich beide Geschlechter plötzlich für ihre Geschlechtlichkeit, die in der kapitalen Welt als Bedingung der Möglichkeit, Subjekt zu sein, immer unwichtiger wird - der Mann, dem sein Geschlecht bisher nebensächlich schien, ebenso wie die Frau, deren Alles es war. In sich selbst versuchen sie sich zu spiegeln, um zum wahren Grund ihrer Identität zu gelangen. Bürgte früher das andere Geschlecht dem Mann als Substanz, als eigentlicher Grund des Willens, den er in der Beziehung zur Frau zu erkennen meinte, ohne zu erkennen, dass zuvörderst er selbst diesen Grund dort gesetzt hatte, so kommt die immer schon bloß selbstbezügliche Praxis nun offen zu sich selbst: Der eigenen Praxis soll ihr Grund abgelauscht werden, der dann heißt, immer schon ein Hetero- oder Homosexueller, männlicher Mann oder weibliche Frau, Swinger oder keusch auf die Ehe WartendeR, kurz: schicksalshaft sexuell identisch gewesen zu sein. Die sexuelle Bestimmung lauert als letztes Geheimnis, als höchste Verheißung, und genau als solche wird sie bei allem Drüberreden wie Drüberschweigen, Heißmachen und Tipps zum Abwarten Geben präsentiert. Freilich als ein nicht enden wollendes Geheimnis, dessen schnöde Enthüllung in der Realität, in der doch nur schicke Waren und gewöhnliche Leute lauern, ihrem Bild nie gerecht werden kann und die Subjekte bloß weiter antreibt. Denn der Blick in den Spiegel ist unendlich oft wiederholbar, ohne je Sicherheit zu gewähren. Soll er unterbrochen werden, so reicht es nicht hin, wie es die Linken meist taten und tun, für einzelne sexuelle Identitäten Gleichberechtigung zu fordern oder gar diese als wesenshaft den anderen, den spießigen heterosexuellen Paarbeziehungen beispielsweise, überlegen zu proklamieren. Zwar mögen manche Bestimmungen über das wahre Begehren, wie sie in Abgrenzung zur heterosexuellen Norm formulierbar werden, bei den solcherart Bestimmten und sich Bestimmenden auch real Ab- und Begrenzungen zur schmerzhaften Folge haben. Nur affirmiert diese Kritik, nicht über sich hinausgetrieben, noch in der Forderung nach Gleichberechtigung die Identifizierungspraxis selbst als Form, in der die Subjekte eben ihre Vergleichbarkeit erst herstellen. Dermaßen gekonnt aufs Kreuz gelegt von der Gesellschaft, die kritisiert werden sollte, wird sich einstmals vielleicht eine Bewegung aufrappeln, die Sexualität als Fetisch der Subjektivität selbst aufzuheben, um dereinst unverkrampft Körpersäfte austauschen oder dies lassen, darüber reden oder darüber schweigen zu können, ohne dies für wesentlich nehmen zu müssen, weil das herrschende Unwissen als kapitaler Grund der zwanghaften Identitätssuche ein für allemal den Geiern zum Fraße vorgeworfen worden ist. Dazu müsste man nur weniger über Stellungstipps und mehr über's Kapital wissen wollen.
[DOC][PDF][|<<]