Für Verfechter des Kampfbegriffs „Islamophobie”, der im Rahmen einer
Immunisierungsstrategie gegen Kritik in den letzten Jahren Karriere gemacht hat, wurde durch
das Massaker von Oslo endgültig bewiesen, dass der traditionelle Antisemitismus durch einen
Hass auf den Islam abgelöst worden sei. Immer wieder kann man in der Debatte über den
norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik hören, es handele sich bei ihm um einen
neuen Typus des Rechtsextremisten: Der Massenmörder von Oslo sei kein Antisemit. Eric Frey
beispielsweise hat diese Behauptung Anfang August im Standard formuliert. Doch schon ein
flüchtiger Blick in Breiviks irres „Manifest” könnte einen eines Besseren belehren. Weder erteilt
der Attentäter dem Antisemitismus eine Absage, noch stürzt er sich in blindem Hass auf den Islam.
Wie anders als einen Antisemiten soll man jemanden nennen, der von einer „antieuropäischen
Holocaust-Religion” faselt, die überwunden werden müsse, und den USA attestiert, sie hätten
angesichts von „über 6 Millionen Juden” ein „beachtliches jüdisches Problem”? Was soll man
von jemandem halten, der in Westeuropa nur deswegen kein „jüdisches Problem” sieht, weil die
dortigen jüdischen Gemeinden ausgesprochen klein seien? Einmal abgesehen von Frankreich und
Großbritannien, wo, wie der Statistikfan Breivik referiert, 800.000 Juden und Jüdinnen leben,
was eben doch wieder ein „jüdisches Problem” hervorrufe. Wohl nur auf Grund der geringen
Zahl von Juden und Jüdinnen in Europa will Breivik „nicht den gleichen Fehler wie die NSDAP”
machen. Für das assimilierte, zahlenmäßig bedeutendere US-amerikanische Judentum sieht der
Massenmörder die Sache aber offensichtlich doch wieder ganz anders.
Dass auch Antisemiten sich beizeiten Israel an den Hals schmeißen, ist keineswegs neu (wobei
Breivik auch hier fein säuberlich zwischen jenen jüdischen Israelis unterscheidet, die ihm als
Bündnispartner gelten und jener wohl überwiegenden Mehrheit, die allein schon aufgrund
ihres „Multikulturalismus” letztlich aus der Welt geschafft werden müssen). Solche Leute
solidarisieren sich mit Israel in aller Regel jedoch nur als Bündnispartner im Abwehrkampf, den
das „Abendland” (ein Begriff, der stets auch von den heimischen Kulturkämpfern gegen jenen
des „Westens” in Anschlag gebracht wird) gegen die antisemitische Konkurrenz des Islam zu
führen habe.
Auffällig ist, dass der abgrundtiefe Hass von Breivik auf emanzipierte Frauen, der neben der
Kampfansage an Moslems zu den wenigen Dingen gehört, die in seinem wirren Manifest
einigermaßen konsequent durchgehalten werden, in der Berichterstattung kaum eine Rolle
spielt. Würde man ihm mehr Beachtung schenken, wäre wohl die Gefahr zu groß, auf die
doch offensichtlichen Parallelen zwischen Breiviks Weltsicht und jener keineswegs nur des
jihadistischen, sondern auch des orthodox-konservativen Mainstreamislams zu stoßen. Breiviks
Hass auf Muslime ist offenbar Ausdruck eines unbändigen Neids auf eine Gemeinschaft, in der
repressive Familienstrukturen noch etwas zählen und Frauen wenig zu melden haben.
Ganz so wie die fremdenfeindlichen Parteien in Europa hasst Breivik Moslems, die sich
auf dem Kontinent niedergelassen haben. Dem Islam jedoch kann er einiges abgewinnen.
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Dementsprechend wendet er sich auch keineswegs grundsätzlich gegen ihn. Er müsse zwar aus
Europa herausgehalten werden, komme ansonsten aber durchaus als Bündnispartner im Kampf
gegen die „US/EU-Globalisten” in Frage. Selbst die Errichtung eines von „frommen Muslimen
geführten Kalifats im Nahen und Mittleren Osten” hält Breivik in seinem „Manifest” unter
bestimmten Umständen für ein unterstützenswertes Projekt, was insbesondere angesichts seiner
ausgeprägten Misogynie überhaupt nicht verwunderlich ist. Umso bemerkenswerter, dass seine
Spekulationen über den Islam als potenziellen Partner in der bisherigen Diskussion über die
Anschläge von Oslo kaum zur Kenntnis genommen wird.
Breivik ist ein Antisemit im Zeitalter der Konkurrenz zwischen abendländischem
Vernichtungswahn und islamischen Jihadismus. Doch davon muss in der Debatte über das
Osloer Attentat und die Transformationen im europäischen Rechtsradikalismus schon deswegen
zwanghaft abstrahiert werden, um sich ja nicht die offenbar ungemein attraktive Gelegenheit
entgehen zu lassen, kryptonazistische Moslemhasser mit liberalen und linken Islamkritikern
in einen Topf zu schmeißen. Der Versuch, linke und liberale Kritiker des Islams in die Nähe
von Breiviks eklektizistischen Irrsinn zu rücken oder ihnen gar eine Mitverantwortung für sein
Massaker zu attestieren, was hierzulande mit Inbrunst von Robert Misik betrieben wird, stellt
nichts anderes als ein durchschaubares Manöver dar, mit dem jegliche Kritik an der islamischen
Menschenzurichtung unter Rassismusverdacht gestellt werden soll. Sich über die geistige Nähe
von Neonazis und den eingeborenen postnazistischen Erben der NSDAP zu Breivik Gedanken
zu machen, ist hingegen alles andere als abwegig. Der Massenmörder teilt mit ihnen keineswegs
nur den Antisemitismus, sondern auch jene Mischung aus Hass auf und Neid gegenüber dem
Islam, die ohne eine gewisse Bewunderung nicht auskommt. Dieses ambivalente Verhältnis
der heimischen Fremdenfeinde hat Gerhard Scheit treffend auf den Punkt gebracht: „Beneidet
wird, dass der Islam verwirklicht, wozu man selbst nicht imstande ist oder woran man relativ
erfolgreich gehindert wird; dass diese Religion gemeinschaftsbildend im politischen Sinn ist;
dass der gläubige Muslim seinen Status als Überflüssiger auf dem Arbeitsmarkt nicht nur so
gut erträgt, sondern daraus Stolz und Würde, und, in Gestalt des jihadistischen Kollektivs,
Kampfgeist gegen einen Feind gewinnt, den man als Hirngespinst mit den Jihadisten durchaus
gemeinsam hat, nämlich die isoliert betrachtete, abstrakte Seite des Kapitals, in dieser oder
anderer Form auf die Juden projiziert, die alle Gemeinschaften zersetzten. So ist aber der als Hass
hervortretende Neid auf den Islam letztlich nur von dessen eigenem antisemitischen Potential
aus zu verstehen. Die Muslime stellen für den Antisemiten des Abendlands nämlich eine einzige
große narzisstische Kränkung dar, wie sie keine andere der von ihm sonst noch verachteten und
physisch bedrohten Gruppen von Immigranten bereithält.”
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Rechte Fremdenfeinde nehmen jede neue Dönerbude in ihrer Wohngegend als existenzielle
Bedrohung wahr, dem islamischen Furor im Orient können sie aber kaum anders als durch
ehrerbietende Anerkennung begegnen, weshalb sie auch auf Kritik beispielsweise am
iranischen Regime ausgesprochen allergisch reagieren. Ihr Ziel ist die Verwirklichung einer zur
Gemeinschaft formierten Gesellschaft, die Materialismus und Individualismus entsagen soll,
worin erschreckender weise auch gar nicht wenige Linke eine ausgesprochen ansprechende
Perspektive sehen. Bei den Vordenkern und Praktikern einer kommunitaristischen islamischen
Elendsverwaltung lassen sich zahlreiche Anregungen finden, wie solch eine Horrorvorstellung
von menschlichem Zusammenleben organisiert werden kann.
Mit den deutschen und österreichischen Nachlassverwaltern der Nazi-Ideologie teilt Breivik
aber nicht nur den Neid gegenüber der gemeinschaftsstiftenden Kraft des Islam, sondern
auch den Hass auf die „Frankfurter Schule”, also jene Kritische Theorie von Theodor W.
Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, auf die sich der Autor der „Europäischen
Unabhängigkeitserklärung” gleich auf den ersten Seiten seines Konvoluts einschießt. Breivik
sieht alles Unglück dieser Welt von „Kulturmarxisten” verursacht, die sich von der Kritischen
Theorie der vor dem Nationalsozialismus in die USA geflohenen Gesellschaftskritiker hätten
inspirieren lassen. Es ist keine allzu neue Erkenntnis, dass der Hass auf die Kritische Theorie
ganz so wie jener auf die Psychoanalyse Ausdruck eines Antisemitismus ist, der sich jede Form
von individueller und gesellschaftskritischer Selbstreflexion panisch um sich schlagend vom
Leib halten muss. In Deutschland verbreitete die NPD in ihrer Monatszeitschrift schon vor
Jahren, dass es sich bei der Kritischen Theorie um einen „Giftfraß” handelt, „der die inneren
Organe und das Gehirn des deutschen Volkskörpers angreifen sollte.” Adornos „Studien zum
autoritären Charakter”, die Breivik als eine Art Handbuch zur Zerstörung des abendländischen
Erbes in Europa sieht, bezeichnete der NPD-Vordenker Norbert Gansel als Vorbild für die US-
amerikanischen Reeducationversuche im postnazistischen Deutschland, die von Adorno motiviert
gewesen seien, der bei den deutschen Nazis ganz im Sinne Breiviks als „geistiger Giftpilz der
Gemeinschaftszersetzung” firmiert. Und in Österreich hatten Burschenschaftler und Freiheitliche
vor einigen Jahren der Kritischen Theorie ein ganzes Symposium unter dem ernst gemeinten
Titel „Frankfurter Schule – die 9. Todsünde” gewidmet, auf dem über jene „zersetzende
Wirkung” von Adorno, Horkheimer und Marcuse referiert wurde, die auch der norwegische
Massenmörder beklagt.
Eben diese „zersetzende” Kritik in der Tradition von Adorno ist es, die auch heute die besten
Waffen bietet gegen abendländischen Wahn und islamischen Jihad, gegen linke Islamapologeten
und rechte Fremdenfeinde.
Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Universität Wien und
Mitherausgeber von „Iran im Weltsystem. Bündnisse des Regimes und Perspektiven der Freiheitsbewegung”. (Studienverlag 2010).
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